Stigma

Kochs Kalkül Kapitalismuskritik dem Antisemitismus gleichstellen

Ein eiskalter Rechner und Berechner wie der hessische Ministerpräsident entgleist nicht und rutscht auch nicht aus - im Prinzip. Der Mann weiß von seinem Vater, der auch schon von der Politik lebte, was Politik als Beruf zuerst und vor allem bedeutet: Wie benütze ich Personen, Situationen und Konfliktlagen für mich und meine Karriere, für meine Macht. Roland Koch vorzuwerfen, er setze die Stigmatisierung von Juden mit gelben Sternen und die namentliche Nennung von Vermögensbesitzern auf die gleiche Stufe, ist berechtigt. Grundfalsch ist die Vermutung, die Nazis hätten die Stigmatisierung erfunden. Die Kennzeichnung von Juden "mit einem gelben Kreis, dessen Durchmesser wenigstens so groß sein mußte wie der kleine Finger" (Nikolaus von Kues), gab es schon im Spätmittelalter. Sie wurde vom Nazi-Regime "nur" systematisch durchgesetzt.

Und einer wie Roland Koch weiß, wie er "den" Juden benützen kann in seinen winkeladvokatorischen Kalkülen. Juden können gerade wegen ihrer Verfolgung und nach ihrer Vernichtung christlich-sonntagsredenmäßig und realpolitisch-schulbuchhaft instrumentalisiert werden. Sie sind Joker in einem Spiel, das je nach Lage auf diffuses Mitleid, "Wiedergutmachung" und dergleichen oder aber auf tiefsitzende Ressentiments setzt.

Das Spiel mit dem diffusen Mitleid spielten Koch und die Seinen, als es darum ging, die Herkunft der CDU-"Spenden" zu verschleiern. Man deklarierte das Schwarzgeld einfach als aus "jüdischen Vermächtnissen" entstammend. Wer - so die Spekulation - getraut sich kritisch nachzufragen, wenn alte Juden spenden?

Und heute mobilisiert Koch das tiefsitzende Ressentiment, wonach Kapitalismuskritik und Antisemitismus etwa dasselbe seien. Er wirft sich als Verteidiger jener in die Bresche, die der Ver.di-Chef Frank Bsirske zutreffend als Kostgänger von konservativen wie rot-grünen Steuer"reformen" identifiziert hat - die Superreichen von Gloria Thurn und Taxis bis zu den Familien Holtzbrinck, Quandt, Klatten Co. Ob man die Namen nennt, ist sicher eine Geschmacksfrage. Wenn es ums Große Geld geht, versteht der fromme Christ Roland Koch jedoch keinen Spaß. Privilegien für große Vermögen werden verteidigt und gerechtfertigt, unabhängig davon, wie viel Leid, Elend und Blut an ihnen klebt. Im Windschatten der erst staatlich und gesellschaftlich geächteten, dann ermordeten Juden wandte sich Koch gegen "die Stigmatisierung" der steuerrechtlich privilegierten Schwerreichen unter den Bundesbürgern. Erwin Huber, der Chef der bayerischen Staatskanzlei, sprach im Zusammenhang mit der Debatte um die Vermögenssteuer sogar von einer "Pogromstimmung" gegen die Wohlhabenden. Koch und Huber transportieren dieselbe demagogische Botschaft: Antikapitalisten sind dasselbe wie Antisemiten. Der berechtigten Kritik an der Steuergesetzgebung wird der Stachel gezogen, indem man die Kritiker implizit oder explizit als Antisemiten denunziert. Doch einer wie Koch "vergaloppiert" sich nicht, sondern rechnet. Das tat er auch vor vier Jahren, als er kurz vor der Landtagswahl gegen ein neues Staatsbürgerschaftsrecht mit einer Unterschriftensammlung mobil machte. Die Stimmungsmache gegen Ausländer und gegen die ausländerrechtliche Gleichbehandlung von Männern und Frauen - deutsche Frauen erhalten durch Heirat mit einem Ausländer fast automatisch die doppelte Staatsbürgerschaft im Unterschied zu Männern - zahlte sich aus. Koch gewann die Wahl nicht zuletzt dank der unappetitlichen Kampagne, mit der er Deutsche gegen Ausländer förmlich aufhetzte.

Schon unter Alfred Dregger und Walter Wallmann zeichnete sich die hessische CDU dadurch aus, dass sie zumal in Wahlkämpfen hemmungslos die "nationale Karte" spielte. Dahinter stand und steht die strategische Überlegung, die CDU immer so weit nach rechts zu rücken, dass die rechtsradikalen Parteien an der Fünf-Prozent-Klausel scheitern. - Und falls sich Koch doch "nur" verbal verheddert haben sollte? Dann ist der Ausrutscher ein Indiz dafür, wie er tatsächlich denkt und redet, wenn er sich unter Freunden wähnt.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden