Die Abende waren etwas Einzigartiges." Noch heute geraten die Gäste von einst ins Schwärmen, wenn sie als Zeitzeugen von dem "literarischen Salon" von Richard Schultz erzählen sollen. "Die geistige Atmosphäre war ganz toll." Auf diese fast sprachlose Begeisterung über einen Kreis, der fast 60 Jahre lang nahezu regelmäßig einmal die Woche zusammen kam, trifft man immer wieder. Aber an der Literatur kann es eigentlich nicht gelegen haben. Denn wenn man die Informationen über das Leben des 1889 im mecklenburgischen Rehna geborenen durchforstet, die der Berliner Historiker Karl-Heinz Steinle zusammengetragen hat, finden sich zunächst nur vage Hinweise auf die Literatur. In der kleinen Charlottenburger Zweizimmerwohnung des ehemaligen Chef de rang i
e rang im Berliner Hotel Bristol Unter den Linden treffen sich 1925 ein paar Gleichgesinnte. Homosexuelle und ihre Freunde und Freundinnen. Schultz hatte sich die Idee zu seinen Treffs, die er zunächst "jour fixe" nannte, von den Treffen bei dem Schriftsteller und Verleger Adolf Brand abgeschaut. Der künstlerische Gegenpart zum Schwulenbewegungsbegründer und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld hatte mit 24 Jahren im Selbstverlag die erste Schwulenzeitschrift der Welt Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur herausgebracht. Etwas allgemein wird Schultz als Liebhaber zeitgenössischer und homoerotischer Literatur vorgestellt. Aber nirgendwo ist auch nur der leiseste Widerhall einer der großen Literaturstreits der Weimarer Republik zu spüren. Stattdessen erfährt man viel über das Interieur des intimen Refugiums - vom Silberlöffel bis zum barocken Bauernschrank. Erst in den sechziger Jahren, vier Jahre nach dem Mauerbau 1961, muss es einen wirklichen Streit gegeben haben unter den Gästen des Salons. Man debattierte über die Frage, ob Jean Genets Romane Miracle de la Rose und Querelle wirklich pornografisch seien. Misst man den "literarischen Salon" von Schultz an den großen Vorbildern von Henriette Herz bis Rachel Varnhagen, fällt er also eher ab. In diesem Kreis wurde keiner literarischen Avantgarde der Weg geebnet - dem Sturm und Drang etwa oder dem Genius Goethe. Was die wechselhafte Lebensgeschichte interessant macht, ist der Nucleus einer Zivilgesellschaft, ein Raum allmählicher Geschmacksbildung. Schultz war ein unpolitischer Anti-Nazi, ein Menschenfreund, der Getränke und Delikatessen organisieren, Menschen zusammen führen und keinem Freund einen Wunsch abschlagen konnte. Doch diese vorpolitische Öffentlichkeit gewinnt zunehmend Widerstandsqualitäten. Schultz´ "Stille Oase", wie sie ein Freund in einem Brief einmal nennt, weitet sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu einem regelrechten Zirkel aus, in dem mehr und mehr über Literatur geredet wird, etwa "Freundesliebe in der Literatur". In der Nazizeit wurde Schultz´ Treffpunkt zu einem Schutzraum, in dem nicht nur Hilfsaktionen besprochen wurden, sondern auch Verfolgte unterkamen. Und dieser Freundeskreis war eine Vorstufe der homosexuellen Öffentlichkeit von heute. Steinles Arbeit ist ein weiteres Mosaiksteinchen, mit dem jüngere Historiker die von den Nazis verfolgte schwule Kultur der Zwischenkriegszeit und der Emigration zu rekonstruieren versuchen. Seine Dokumentation gleitet nie ins Schwärmerische ab. Präzis, ohne jede Sentimentalität gibt sie Einblick in die Lebensstrategien "ganz gewöhnlicher" Homosexueller vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Die hatten schon gut funktionierende Netzwerke, als es noch kein Attac gab. Die Ehe war als Rechtsinstitut insofern interessant, als sie offen als Schutzehe genutzt wurde. Und die "soziale Familie", die Schultz sich im Laufe der Jahre zusammen gesucht hatte, sorgte dafür, dass der alte Mann in Berlin am Ende seines Lebens regelmäßig besucht wurde und 1977 bei Freunden in Bebenhausen bei Tübingen sterben konnte. Man darf also das mythische Wort Salon nicht zu hoch hängen. Literatur diente in diesem Kreis als Spiegel einer nicht repräsentierten Minderheit. Die politische Öffentlichkeit, an der sie nur begrenzt teilhatten, kompensierten sie mit einer literarischen. In einer Gesellschaft, in der noch keine waghalsigen Coming-outs in der Talkshow gang und gäbe waren, bedurfte es anderer Formen der Selbstvergewisserung. Und Literatur war eine Form der Lebensbegleitung. Mit allen Formen der Poetisierung des Alltäglichen, wie man sie seit der Romantik kennt. Würde einem heute noch jemand zum Tod eines Freundes, der, sagen wir an AIDS gestorben ist, Gedichte schreiben? Als Schultz große Liebe Hans Spann 1944 an der Ostfront fällt, bringt Schultz´ Freund Albert Burkart, Tänzer an der Charlottenburger Oper, als Trost für ihn die Zeilen zu Papier: Könnt ich nur einmal knieen an seinem Grab! / Da nähm ich endlich Mut zu sagen, / was ich ein Leben lang um ihn getragen / und scheu verborgen hab. Klar, dass solch ehrfürchtige Initiation in die bürgerliche Kunstreligion irgendwann einmal an ihre kulturellen Grenzen stoßen musste. Ein großbürgerliches Ritual in einer kleinbürgerlichen Wohnung, vollgestopft mit schwulem Nippes, vom nackten Jüngling in arkadischer Landschaft bis zur obligaten Antinous-Statue, ein sittsames Rentree bei Portwein, Sherry und Käsegeback, bei dem sich alle siezen und auf einem ottomanischen Diwan zuprosten, würde heute gewiss keinen schwulen Literaturliebhaber hinter irgend einem heißen Szeneofen hervorlocken. Die Kultur der schwulen Salons ist nahezu ausgestorben. Es herrscht das obligate Geschmacksurteil "ey, geil". Die befreite Szene braucht wahrlich keine intime Öffentlichkeit mehr, um sich über ihresgleichen austauschen oder offenbaren zu können. Doch bis auf die Ausnahme von Nicolaus Sombarts Berliner Teegesellschaften in Dahlem oder ein paar Clubs in Berlin-Mitte vielleicht - wenn man einen der vielen (heterosexuellen) literarischen Salons verlässt, die seit ein paar Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen, hat man oft das Gefühl, man ist eigentlich nur da gewesen, um zu sehen und gesehen zu werden. Die Schnittchen, die Schultz vor dem Beginn seiner Abende noch mit großem Aufwand zurecht machte, werden heute von den Verlagen gesponsort und von Catering-Firmen ins Haus geliefert. Fehlt man das nächste Mal auf dieser gut polierten Warmhalteplatte des labilen Marktes, fällt das keinem auf. Und das Palaver über die paar Bücher, die man eh nicht gelesen hat, hätte man sich meist auch sparen können. Mag sein, dass hinter der wundersamen Wiederbelebung der literarischen Salons die Sehnsucht nach verbindlicheren Bezügen als den zerstreuten Öffentlichkeiten der globalisierten Mediengesellschaft steckt. Aber um genau so bewundernd über sie sprechen zu können wie über den von Richard Schultz, fehlt ihnen vielleicht doch jene Ursubstanz, die keine noch so ausgeklügelte Leseförderung aus der Retorte zaubern kann: Atmosphäre.Karl-Heinz Steinle: Der Literarische Salon bei Richard Schultz. Hrsg. vom Schwulen Museum Berlin. Querverlag, Berlin 2002, 120 S., 12,50 EURDie gleichnamige Ausstellung im Schwulen Museum in Berlin-Kreuzberg ist noch bis zum 29. Juli 2002 zu sehen.
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