Eine Zeitzeugin, nennen wir sie Frau Krug, erzählt: „Also, die Juden waren die Schlimmsten! Die haben uns richtig schikaniert! Wissen Sie, die setzten sich hin, die ließen sich bedienen von uns ... Juden und Russen, da hab ich immer gesehen, dass ich die nicht kriegte. Die waren ganz widerlich. Ich hab mich dann immer unten an die Straße gestellt, vor das Tor, und wenn sie sagten: ‚Quartier!‘, sagte ich: ‚Nee, schon alles voll!‘ Wenn es Juden waren, sagte ich: ‚Alles voll Russen, könnt ihr mit reingehen!‘ ‚Nein, nein!‘ Und wenn Russen kamen, da sagte ich, sind Juden da.“
Worum geht es bei dieser Geschichte? Der Hof der zum Zeitpunkt des Interviews schon hochbetagten Frau Krug liegt in der Nähe des Lagers Be
Lagers Bergen-Belsen. Nach der Befreiung des Lagers am 15. April 1945 wurden die Lagerbaracken bald wegen Seuchengefahr evakuiert und in Brand gesetzt. Die Situation, die sich den britischen Soldaten unmittelbar geboten hatte, war grauenhaft: Im Winter war Bergen-Belsen das Ziel von Todesmärschen aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Osten gewesen. In dem ursprünglich für 2.000 Häftlinge ausgelegten Lager befanden sich nun mehr als 40.000 Personen.Die Besatzungsbehörden nutzten nach der Evakuierung des Lagers umliegende Wehrmachtskasernen für die Unterbringung der ehemaligen Häftlinge, die nun displaced persons waren, zwangsverbrachte Menschen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern. Und auch Anwohner wurden veranlasst, den evakuierten Menschen „Quartier“ zu machen, was ihnen naturgemäß unangenehm war. Wer gestern noch KZ-Häftling, jüdischer oder bolschewistischer „Untermensch“ oder „Gemeinschaftsfremder“ war, hatte plötzlich Anspruch, mit im eigenen Haus oder immerhin doch, wie bei der empörten Frau Krug, in der Scheune zu wohnen?Chaos passt nicht in AktenDer kleine Gesprächsausschnitt zeigt eine mikroskopische Aufnahme aus der chaotischen, unsortierten Situation des unmittelbaren Kriegsendes – in der Millionen Menschen, Täter, Opfer, alliierte Soldaten, nichtjüdische Deutsche, Land- und Stadtbewohner, flüchtige Nazis, Kinder mit Eltern und ohne Eltern, sich im Off einer geordneten, durch Erfahrung und Institutionen zusammengehaltenen Lage fanden. Diese offene, durch Gewalt, Zerstörung und rapiden Wechsel der Machtverhältnisse charakterisierte Situation des unmittelbaren „Danach“ ist von der historischen Forschung schlecht ausgeleuchtet.Kein Wunder: Chaos wird aktenmäßig nicht erfasst. Und überhaupt stellt jede historische Betrachtung im Nachhinein mehr Ordnung dar, als real vorhanden war, denn sie muss sich ja an feststellbare Daten und Quellen halten. Die haben allerdings mehr Struktur als das geschehende Leben selbst. Wie sieht eine Welt aus, in der 55 Millionen Menschen in Zeiten des Kriegs ihren Wohnort verlassen mussten? Acht bis neun Millionen von ihnen befanden sich nun in den alliierten Besatzungszonen, davon waren etwa sechs Millionen Zwangsarbeiter, rund zwei Millionen Kriegsgefangene und fast eine Dreiviertelmillion befreite KZ-Häftlinge. Zwölfeinhalb Millionen Vertriebene aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn kamen dazu. Ausgerechnet das Vorhaben, ein rassereines, „arisches“ Kernreich zu schaffen, hatte, wie Atina Grossman und Tamar Lewinsky geschrieben haben, das Nachkriegsdeutschland in ein „multiethnisches Territorium“ verwandelt.Im sozialpsychologischen Universum eines unerwarteten und von den meisten ungewollten „Danach“ ist das nicht die einzige Enttäuschung, mit der sich die nichtjüdischen Deutschen konfrontiert sahen: Die durch die alliierten Bombardierungen teils radikal zerstörten deutschen Städte schufen Wirklichkeiten in Trümmern, Notunterkünfte voll grauenhafter Bilder und Ungeziefer. Diese ließen, wie es der Schriftsteller W. G. Sebald formulierte, gerade „die Deutschen, die doch die vollständige Säuberung und Hygienisierung Europas sich vorgesetzt hatten“, befürchten, sie seien „in Wahrheit selber das Rattenvolk“.Placeholder authorbio-1Die omnipotenten Träume, die spätestens mit Stalingrad zu schwinden begannen, waren ja nicht nur die offiziellen einer rassentheoretisch begründeten europäischen oder gar globalen Ordnung. Sie hatten sich vielfach in individuelle Aussichten übersetzt, die an das nationalsozialistische Projekt gekoppelt waren. So hatten, wieder mit Sebald, „nicht wenige davon geträumt, wie sie nach dem Krieg in den Kirschgärten am stillen Don auf einem Landgut sich niederlassen wollten“. Und die Eliten in den Planungsstäben, Universitäten, Verwaltungen und Unternehmen waren sich lange, auch aufgrund der durch die Kriegserfolge möglichen Raubzüge in den besetzten Ländern, sicher, nach dem Endsieg hervorragende Perspektiven zu haben, Herrenperspektiven.In der Wehrmacht, bei der Luftwaffe und bei der Marine sah das schon viel früher anders aus: In der Wehrmacht glaubte schon nach den schweren Niederlagen des Winters 1942/43 kaum noch jemand, dass der Krieg zu gewinnen wäre. Auch in der Marine teilte man diese Ansicht weitgehend. Nicht wenige dachten wie der kriegsgefangene Marinesoldat Josef Przyklenk, der schon im März 1942 einem Kameraden gegenüber äußerte: „Oktober vorigen Jahres, da hat der Adolf erklärt: ‚Die letzte Schlacht gegen die Russen beginnt.‘ Scheiße war das, Mensch!“Allein in der Luftwaffe war die Stimmung optimistischer – nicht zuletzt, weil hier der Kampf individuelle Erfolge zuließ, die die Sache subjektiv günstiger erscheinen ließen. Aber Anfang 1945 war die Stimmung allgemein so abgesunken, dass selbst offizielle Dienstakten Vermerke enthielten, dass die Truppe „im allgemeinen die Schnauze voll“ habe. Was übrigens keineswegs hieß, dass sich damit der Glaube an den Führer erledigt hätte. Der überstand sogar den Untergang: In alliierten Abhörprotokollen vom 22. März 1945 findet sich der folgende Dialog zwischen Martin Vetter, dem Kommandeur eines Fallschirmjägerregiments, und Anton Wöffen, einem Jagdflieger, die gerade beide in britische Kriegsgefangenschaft gekommen waren:Vetter: „Man kann über Nationalsozialismus denken, wie man will, Adolf Hitler ist der Führer und hat dem deutschen Volk bisher schon viel, unheimlich viel gebracht. Endlich konnte man wieder mal stolz sein auf das eigene Volk. Das darf man nie vergessen.“Wöffen: „Nichts, auch gar nichts kann man wegleugnen.“Vetter: „Wenn ich auch überzeugt bin, dass er der Totengräber des deutschen Reiches sein wird.“Wöffen: „Der Totengräber, ja.“Vetter: „Ist er. Ganz ohne Zweifel.“Heilsbringer und Totengräber – sind die beiden Soldaten schizophren? Sicher nicht. Der kurze Dialog zeigt lediglich, dass „der Führer“ identifikatorisch so aufgeladen war, dass nicht einmal die Niederlage den Glauben an seine Bedeutung in Frage stellen konnte. Die Größenfantasien, die sich in seiner Person verkörpern, überstrahlen das Scheitern des nationalsozialistischen Projekts. Und sie haben eine ganz eigene Wirklichkeit und Wirksamkeit. Da hatte das Arzt- und Psychoanalytikerpaar Margarete und Alexander Mitscherlich mit seiner Diagnose über die Unfähigkeit zu trauern 1967 schon recht: Der Führerglaube hielt sich weit länger als das „Dritte Reich“ selbst.Dessen Ende freilich trat für die Beteiligten sehr ungleichzeitig ein: Westlich des Rheins war die NS-Herrschaft Ende März 1945 beendet. In Dänemark, in Norwegen oder in der Tschechoslowakei erst zwei Monate später. Und was sich im Rückblick auf das Datum des 8. Mai 1945 oder gar auf eine „Stunde Null“ verdichtet, ist in Wahrheit ein zerdehnter Prozess des Auseinanderfallens sozialer Wirklichkeiten.Amerikanische Soldaten, die das Lager Dachau befreiten, erschossen in spontaner Empörung die SS-Wachmannschaften – das kam auch andernorts vor. Während es überall dort, wo alliierte Soldaten auftauchten, weder Hakenkreuzfahnen an den Häusern noch Hitlerbilder in den Amtsstuben noch Menschen mit Parteiabzeichen mehr gab, wurden andernorts weiter „Wehrkraftzersetzer“ von der SS aufgehängt und schossen Hitlerjungen auf vermeintliche Gegner. Zahllose Frauen wurden Opfer von Massenvergewaltigungen durch Rotarmisten. Und viele Verfolgte sehnten den Tag der Befreiung herbei, der eben regional sehr unterschiedlich kam, was über Leben und Tod entscheiden konnte.Marie Jalowicz, die untergetaucht in Berlin überlebt hatte, schreibt über den 22. April 1945: „Als der Krieg in sein wirklich allerletztes Stadium ging, herrschte praktisch pausenlos Alarm. Ich versteckte mich nicht mehr vor den Nachbarn ... Auf eine etwas törichte Weise ärgerte es mich, dass der Krieg auf so langweilige, banale Weise zu Ende ging und dass ich nicht mitten im Schlachtengetümmel stand. Und dann war es so weit. Irgendjemand sagte: ‚Aus. Die Russen sind da. Wir sollen rauskommen.‘ Alle kletterten mit erhobenen Armen aus dem Graben. Ich hob die Hände nur leicht an, denn ich dachte: Ich habe mich nicht zu ergeben. Ich stand zwar formal auf der Seite der Besiegten, aber gefühlsmäßig auf Seiten der Sieger.“Ungleichzeitige PhänomeneNicht alle Verfolgten überlebten die letzten Kriegstage. Noch am 3. Mai 1945 kamen Tausende aus dem KZ Neuengamme evakuierte Häftlinge auf der „Cap Arcona“ um, die von der Royal Air Force in der Annahme versenkt wurde, es handle sich um einen Truppentransporter. Und in den befreiten Lagern starben immer noch Tausende Häftlinge an Unterernährung, Entkräftung, Infektionen. Wie Alexander Kluge geschrieben hat, gliederten sich „Glückszonen und Unglückszonen des gesamten Landes nach Untergang des Reiches in Ortschaften“.Das Gesamtgeschehen entzieht sich dem Überblick, weil es erfahrungsgeschichtlich eben gar kein Gesamtgeschehen gab. Vielleicht muss man das, auch wenn es schwerfällt, einfach anerkennen: Es gibt historische tipping points, Leerstellen der Ordnung, die sich nicht nach Kausalitäten und linearen Abläufen sortieren lassen. Erstaunlich bleibt bei alldem, wie Menschen solche Situationen absenter Ordnung bewältigen. Es gibt allem Anschein nach keinen Nullpunkt, an dem die subjektive Suche nach Auswegen aufhört. Es sei denn den, an dem absolute Gewalt herrscht.Aber dadurch, und das ist vielleicht das Erstaunlichste, zeichnete sich das Kriegsende meist nicht aus. Im Gegenteil zeigt das Zerbrechen der Ordnung oft zugleich die Öffnung von Handlungsräumen. Und dann ist es keine Frage von Alter, Geschlecht, Bildung, Herkunft, wer sie wie ergreift. Das läuft nicht nach Kriterien ab, wie sie die Soziologie oder die Geschichtswissenschaft kennt, nach Logik und Kausalität. Vielmehr handelt es sich um ungleichzeitige soziale Phänomene. Die zu systematisieren und nachträglich in Ordnungen zu bringen ist nicht möglich. Ein bestimmtes Maß an Verdichtung von Ereignissen entzieht sich der wissenschaftlichen Beschreibung. In der lebensgeschichtlichen Erfahrung wirken sie desto nachhaltiger.
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