Stimmt, rücksichtsloser geht’s auch unten zu...

Kulturkommentar ... aber nur die Eliten profitieren kräftig. Der Soziologe Michael Hartmann über die Moral der entsolidarisierten Gesellschaft

Diese Woche läuft Zettl an, der neue Film von Helmut Dietl über die Berliner Polit- und Medienszene. Worum geht es im Kern? „Baby Schimmerlos ging damals zwar auch über Grenzen, aber er hatte durchaus noch Vorstellungen von Moral und Unmoral. Max Zettl hat die nicht mehr, in seinem Weltbild kommen Begriffe wie Unmoral oder Skrupel gar nicht vor.“ Dieser Aussage von Dietl dürften die meisten Bürger zustimmen. Die Älteren erinnern sich dann daran, dass es früher selbst bei Schlägereien Regeln gab, die allgemein akzeptiert wurden. Wenn jemand am Boden lag, hörte man auf. Auch die Politiker und Journalisten sehen in der Erinnerung moralischer aus als heute. Generell schien es in der Gesellschaft früher anständiger zuzugehen.

Ob das alles genauso stimmt oder manches verklärt wird, lässt sich im Einzelfall nicht immer sicher sagen. Journalistenrabatte gibt es schließlich nicht erst seit 20 Jahren, und zumindest auf lokaler und regionaler Ebene war Filz zwischen Politik und Wirtschaft auch schon vor Jahrzehnten zu beobachten. Allgemein spricht dennoch viel dafür, dass es im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte zu einer gewissen „Verluderung“ der Sitten gekommen ist. Das gilt nicht nur für die Häufung der Skandale in den oberen Etagen der Gesellschaft, von Zumwinkel bis Wulff. Auch im alltäglichen Verhalten der breiten Bevölkerung haben Werte wie Solidarität oder Fairness an Boden verloren.

Mit Verzögerung

Der entscheidende Wendepunkt war die Thatcher-Ära. Es gebe keine Gesellschaft mehr, sondern nur Individuen, sagte die britische Premierministerin. Konkurrenz war angesagt, nicht Solidarität. Die alten Werte der Arbeiterbewegung wie teilweise auch des Bürgertums waren nicht mehr zeitadäquat. Jeder musste nun sehen, wo er blieb. Dieses Motto wurde zwar von oben vorangetrieben, notfalls durch massiven Polizeieinsatz wie bei der entscheidenden Niederlage britischer Bergarbeiter 1984/85. Doch wurde es von größeren Teilen der Bevölkerung auch akzeptiert. Thatcher wurde immerhin dreimal gewählt. Die Welt sei in Zeiten der Globalisierung eben rauer geworden, meinen viele. Mit einer Verzögerung von gut einem Jahrzehnt kam diese Botschaft auch in Deutschland an.

Je stärker eine Gesellschaft aber von Prinzipien wie the survival of the fittest oder the winner takes it all bestimmt wird, umso weniger prägen Werte wie Gemeinsinn oder Kollegialität das alltägliche Handeln und Denken. Damit sinkt auch die Hemmschwelle, Gefälligkeiten anzunehmen oder in anderer Weise den persönlichen Vorteil zu suchen. Beschleunigt wird das dadurch, dass die Eliten mit schlechtem Beispiel vorangehen.

Es bleibt aber ein wesentlicher Unterschied zwischen den oberen zehn Prozent der Bevölkerung – vor allem also den Reichen und Mächtigen – und den unteren 90 Prozent. Erstere haben von dieser Entwicklung materiell eindeutig profitiert, letztere unter ihr mehr oder weniger ge­litten. Deshalb erfreuen sich bei großen Teilen der Bevölkerung Werte wie Ehrlichkeit oder Freundschaft wenigstens theoretisch einer immer größeren Beliebtheit. Man sucht im kleinen privaten Umfeld das, was man gesamtgesellschaftlich vermisst, aber auch als nicht mehr realisierbar ansieht. In den oberen Etagen der Gesellschaft herrscht dagegen Gleichgültigkeit, Zynismus und Zufriedenheit.


Michael Hartmann lehrt Soziologie an der TU Darmstadt

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