Stirbt die Hoffnung zuerst?

Hungerstreik Mit dem drastischen Protest holen die Klima-Aktivist:innen die dystopische Zukunft in die Gegenwart. Das ist bedrückend
Ausgabe 38/2021
Die Gruppe hungerstreikender Klimaaktivist:innen (v.l.n.r.): Henning Jeschke, Mephisto, Lina Eichler, Rumen Grabow, Jacob Heinze
Die Gruppe hungerstreikender Klimaaktivist:innen (v.l.n.r.): Henning Jeschke, Mephisto, Lina Eichler, Rumen Grabow, Jacob Heinze

Foto: epd/IMAGO

Es ist nicht einfach, über eine Klima-Aktion wie den seit dem 30. August andauernden Hungerstreik der Aktivist:innen in Berlin zu schreiben. Dass es Menschen gibt, die nach jahrelangen Protesten und Demonstrationen keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich selbst zu gefährden, wühlt mich auf.

Mit ihrer Aktion holen sie eine dystopische Zukunft in die Gegenwart, schreiben sie geradezu in ihre Körper ein. Sie entwerfen keine lebenswerte Zukunft, sondern versuchen, die künftige Katastrophe zu vergegenwärtigen, wie es die Philosophin Eva von Redecker mit Blick auf andere Aktionen von Extinction Rebellion beschrieben hat. Sie erhoffen sich davon Einsicht der Mächtigen sowie ein politisches Erwachen der Mehrheit. „Wir sind die letzte Generation“, sagen sie. Auf einem Bild ergreift die Hand der heutigen Generation die Hand eines Skeletts von 2050. Diese hoffnungslose Tat der Machtlosen und die empörende Untätigkeit der Mächtigen sind komplementär: Eine andere Welt erscheint unmöglich.

Was mir an dieser Aktion nahegeht, sind nicht nur der verzweifelte Appell an die Kanzlerkandidat:innen und der damit verbundene Glaube an die bestehenden Hierarchien. Die Aktion erschüttert mich vor allem deshalb, weil sie der Klimabewegung den Spiegel vorhält. Sie zeigt, es ist erst ungenügend gelungen, Hoffnung zu entfachen, dass eine andere Welt möglich ist. So macht es den Anschein, als ob wir tatsächlich vor dem Ende stünden.

Was aber, wenn wir nicht die Letzten sein werden? Dann müsste es auch darum gehen, in den Bewegungen und Aktionsformen gegen die Zerstörung von Umwelt und Klima alternative Lebensformen vorwegzunehmen.

Die Geschichte des Kapitalismus ist durchzogen von Enteignung, Vertreibung oder Unterwerfung. Für die davon Betroffenen ist die Katastrophe längst eingetreten. Viele haben gelernt, dennoch weiterzumachen, Beziehungen neu zu knüpfen, trotzdem zu hoffen, zu lieben und Widerstand zu leisten. „In jeder Krise hätten wir nicht überleben sollen, aber wir haben überlebt“, sagte der Schwarze Denker und Aktivist Cedric Robinson. Bei seiner Erforschung der Black Radical Tradition zeigte er, dass Sklav:innen und ihre Nachfahren eine Tradition des Widerstands und alternativen Zusammenlebens entwickelt haben, um sich, ihre Gemeinschaften und Lebensräume zu erhalten. Dadurch haben sie die globale Geschichte der Freiheitskämpfe maßgeblich geprägt.

Auf die Klimakrise übertragen, bedeutet dies nicht, dass wir uns mit dem Schlimmsten zu arrangieren haben. Es heißt nur, dass wir in den Kämpfen gegen die Zerstörung des Planeten eine solidarische, gerechte und ökologische Zukunft vorwegnehmen müssen, wie dies etwa bereits bei den Waldbesetzungen, den Aktionen von „Ende Gelände“ oder „Sand im Getriebe“ getan wird. Wir sollten nicht das Ende der Welt, sondern das Ende dieser zerstörerischen und ausbeuterischen Welt vergegenwärtigen. Wenn wir „wollen, dass das Leben weitergeht“, wie es eine der Hungerstreikenden formuliert hat, müssen wir die Klimazerstörung stoppen. Aber wir sollten auch andere Geschichten erzählen sowie auf uns und unsere Umwelten aufpassen. In ebendieser Sorge liegt etwas Widerständiges – und der Keim einer anderen Welt. Weil wir in einem System leben, das Sorglosigkeit zum Programm gemacht hat.

Milo Probst ist Historiker und Autor von Für einen Umweltschutz der 99 % (Nautilus 2021)

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