Vor der Abstimmung über den Sejm der Legislaturperiode 2001-2005 am 23. September gelten in Polen Überraschungen als Sensation. Nichts hätte der bisherigen Opposition - des quasi-linken Demokratischen Linksbündnisses (SLD) - so "erfolgreich" und "effizient" zum sicheren Wahlsieg verhelfen können wie die vier Jahre dauernde Misswirtschaft der mit der Parole "Wir machen eine zweite Solidarnosc-Revolution" angetretenen "Ethos"-Regierung unter Premier Buzek.
Seit Monaten lassen alle Meinungsforschungsinstitute Polens keinen Zweifel am Sieg der Wahlallianz Demokratisches Linksbündnis (SLD)/Union der Arbeit (UP/ s. Kasten). Die allein noch offene Frage bezieht sich darauf, ob die SLD unter Leszek Miller mit der UP unter Marek Pol die absolute Mehrheit erreicht und ob
rek Pol die absolute Mehrheit erreicht und ob dies vielleicht genügen könnte, für verfassungsändernde Vorstöße mit Unterstützung der Bauernpartei (PSL) sogar eine qualifizierte Drei-Viertel-Mehrheit zustande zu bringen. So besteht beispielsweise die dringende Notwendigkeit, per Gesetzesnovelle oder Verfassungsänderung den seit 1997 völlig autonomen "Geldrat" - ein Gremium von Finanzberatern und Bankern unter dem Vorsitz des Präsidenten der Polnischen Nationalbank - auf eine verantwortliche Koordination mit der Wirtschafspolitik des Landes zu verpflichten. Dass es gerade diese Abstimmung in den vergangenen vier Jahren nicht gegeben hat, ist nicht die einzige Absurdität unseres ökonomischen Lebens. Der sich fast ausschließlich auf Inflationsbekämpfung kaprizierende "Geldrat" hält bis heute hartnäckig an pyramidalen Zinssätzen von durchschnittlich 20 Prozent fest, was nicht nur die für Investitionen notwendige Kreditaufnahme bremst, sondern auch der Konjunktur seit 1997 immer wieder Schläge in die Magengrube versetzt. Polen verbucht so eine schwindsüchtige Inlandsnachfrage und eine Beschäftigungslosigkeit, die sich unter dem Premier Buzek von der Wahlaktion Solidarnosc (AWS) um mehr als eine Million auf fast drei Millionen erhöhte. Gleichzeitig aber sah sich ausländisches Spekulationskapital durch die praktizierte Zinspolitik zur kurzfristigen Anlage animiert.Lassen wir es dahingestellt, ob das der einzige Widersinn war. Ohne auch nur annähernd die Kosten zu berechnen, hat die Regierung, die neben der Wahlaktion Solidarnosc bis Sommer 2000 auch von der ebenfalls zum "Ethos"-Lager gehörenden Freiheitsunion (UW - Unía Wolnosci) getragen wurde, vier grundsätzliche Reformen sozusagen vom Zaun gebrochen und ist damit grandios gescheitert, was einzig und allein die Bevölkerung zu ertragen hat. Die Gebiets- und Verwaltungsreform hat Kompetenzen verwischt und die Bürokratie vermehrt, die Gesundheitsreform die Lage der Patienten wesentlich verschlechtert und statt dessen eine teure Kassenbürokratie hervorgebracht, die Schulreform mündete in ein höllisches Chaos, schließlich die Rentenreform - sie bleibt unbezahlbar und daher unbezahlt.Derartige "Errungenschaften" werden jetzt allerdings von der Krise der öffentlichen Finanzen noch in den Schatten gestellt. Nachdem bereits im Juli umgerechnet fünf Milliarden DM für den Haushalt 2001 durch den Sejm zusätzlich genehmigt werden mussten, platzte im August die eigentliche Bombe: Für das nächste Jahr fehlen mindestens 50 Milliarden DM. Das noch amtierende Kabinett, das laut Verfassung zur Vorlage des Haushalts 2002 verpflichtet ist, will den Fehlbetrag auf 20 Milliarden reduzieren, bleibt aber auf die Frage, wie sie 30 Milliarden zu sparen gedenkt, jede konkrete Antwort schuldig.So hat der designierte Regierungschef Leszek Miller (SLD) dem "Ethos"-Lager nicht nur eine recht effektive "Wahlhilfe" zu verdanken. Es scheinen kaum ungünstigere ökonomisch-finanzielle Bedingungen für eine "Rückkehr zur Normalität" und den "Gewinn der Zukunft" - so die SLD-Wahlparolen - denkbar. Das Erbe der Wahlaktion Solidarnosc kann der offiziellen Linken Polens zum Fluch werden. Ein Umstand, der aus rechten Gefilden mit der Begleitmusik versehen wird - das geschehe der "Postkommune" ganz recht, sie verdiene die Strafe Gottes für ihren unfrommen Machtanspruch. Leszek Miller, dem schon einmal der berühmte Adenauer-Spruch - "Die Lage war noch nie so ernst" - entschlüpft ist, geht daher mit konkreten Versprechungen im Wahlkampf äußerst vorsichtig um. Der Buzek-Regierung, die ihn mehrmals zum "gemeinsamen überparteilichen Gespräch" über die Streichungen im nächsten Haushalt eingeladen hat, zeigte er konsequent die kalte Schulter. In dieser Woche meinte der SLD-Chef gar, sollte er nicht mit der absoluten Mehrheit regieren können, werde man sich überlegen müssen, ob man die Macht überhaupt haben wolle. Polen - so Miller - brauche jetzt eine starke Regierung, eine straffe Führung, und jede Koalition - mit wem auch immer - würde zu faulen Kompromissen führen und das Krisenmanagement wesentlich erschweren. Seine "Friss-Vogel-oder-stirb-Theorie", die er pur an das Wahlvolk weitergibt, lautet also: Entweder bekommen wir - das Wahlbündnis SLD-UP - eine achtbare absolute Mehrheit oder die "Ethos"-Kräfte, inzwischen zerstritten in Bürger-Plattform (PO), Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwosc), Rechte Wahlaktion Solidarnosc und Freiheitsunion (die beiden Letztgenannten zittern um ihr parlamentarisches Dasein), mögen bitte sehr mit dem Regieren fortfahren und selbst aufräumen.Ob Leszek Miller das ernst meint oder nur das polnische Elektorat mit der Vision von einer Nachauflage der Ära Buzek verschrecken und so zur bedingungslosen Unterstützung einer Alternative aktivieren will - darüber kann nur spekuliert werden. Nach allen demoskopischen Daten der vergangenen Tage scheint ein hoher Sieg der "Linken" denkbar. Doch sind sich die Sozialdemokraten ihrer Sache offenkundig nicht vollkommen sicher. Entscheidend wird am 23. September die Wahlbeteiligung sein - anders als die mobilisierte und motivierte Wählerschaft der Sozialdemokraten verharrt die Klientel der Rechtsparteien eher in Resignation. Da eine Woche vor dem Urnengang mehr als die Hälfte der Wähler zu erkennen gibt, dass sie sich dem demokratischen Spektakel zu verweigern gedenkt, versuchen sowohl die Bischöfe wie auch die Spitzenkandidaten von Mitte-Rechts, möglichst jeden Anhänger zu überzeugen, dass Wahlabstinenz einer schweren Sünde am Vaterland gleichkomme. "Wollt Ihr wieder die Postkommune?", dröhnt es von den Kanzeln bedeutungsschwer und mit patriarchalischer Strenge. Mit Bedacht wird da eine falsche, fast surreale Alternative suggeriert. Denn abgesehen von unumgänglichen, sozial- und arbeitspolitisch schmerzhaften Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise lautet die Frage eher: Gibt es künftig ein berechenbares oder weiterhin ein unverantwortliches Regieren? Gibt es mehr oder weniger Staat? Gelangt qualifiziertes und integres Personal in Verantwortung oder - pardon - handelt es sich um Hochstapler und Scheißkerle?