Streifenshirt

A–Z Heute Oberteil für die Massen, sollten die Streifen den Seemann in Not retten. Coco Chanel entdeckte wiederum das Fischerhemd für ein weibliches Statement. Unser Lexikon
Ausgabe 33/2018
Streifenshirt

Foto: Bettmann Archive/Getty Images

A

Außer Atem Patricias Augen, mit Schwalbenschwanzlidstrich verziert, taxieren den Kleinkriminellen Michel, der – in dunkler Vorahnung seiner drohenden Verhaftung – einen Streifenbademantel trägt oder, ein anderes Mal ist der Kontrast eine Karo-Krawatte. Sie wirkt wie eines jener Picasso-Mädchen: Kulleraugen, Stupsnase, Kussmund. Patricia trägt Streifenshirts (Coco Chanel), die Linien verlaufen hübsch sauber parallel.

Jean-Luc Godards Außer Atem aus dem Jahr 1960 ist eine einzige Variation über das Streifenshirt in Block- und Nadelstreifenvarianten (plus Karos), in allen Grauzwischentönen, zum Kleid verlängert oder eben in den Bademantel verkehrt. Ausgerechnet die Amerikanerin Jean Seberg verkörpert darin den Inbegriff des französischen Schicks, so wie sie zuvor der französischen Nationalikone Jeanne d’Arc im Film „Johanna die Heilige“ (1957) die Kulleraugen lieh. Patricia verkauft Zeitschriften. Schwarz auf Weiß ist ihre zweite Natur. Marlen Hobrack

C

Coco Chanel Vor hundert Jahren war das weiß-blaue „Breton-Shirt“ der französischen Marine Seemännern vorbehalten. Frauen in Männerkleidung drohte ohne amtliche Erlaubnis Inhaftierung.

Es war Coco Chanel, die den Look der Seeleute für Frauen salonfähig machte, als sie 1917 eine maritime, die Frauenmode revolutionierende Kollektion entwarf. Weil Stoff im Ersten Weltkrieg rar war, kaufte Chanel einen Lagerbestand von Jersey auf. Der preiswerte Strick, bis dahin nur für Männerunterwäsche (U-Boot-Ausschnitt) verarbeitet, entsprach in seiner Elastizität ihrer Idee einer von Enge befreiten Damenmode. Dass das Shirt zum Symbol für Lifestyle wurde, verdankt sich der Mode-Ikone Baronin Rothschild. Die hatte sich mit Designer Paul Poiret, unangefochtene Autorität in Modefragen, überworfen und war mit vielen ihrer Freundinnen zu Chanel übergelaufen. Helena Neumann

D

Dickmacher Hermann von Helmholtz hat es gut gemeint mit der Menschheit. In unzähligen Beiträgen zur Physik beschäftigte er sich mit der Funktionsweise unserer Welt, aber auch mit der menschlichen Wahrnehmung. Zum Beispiel fand er heraus, dass ein mit horizontalen Streifen gefülltes Quadrat dünner aussieht als eines mit vertikalen Streifen (Zebra).

Das widerspricht dem Alltagswissen, dass Querstreifen auf Kleidung angeblich dicker wirken lassen. Nun sind menschliche Körper keine Quadrate, aber der Mythos hält sich dennoch nicht. Im Jahr 2008 führte der britische Psychologe Peter Thompson ein Experiment durch, welches die Helmholtz-Illusion auf ihre Alltagstauglichkeit prüfen sollte. Er zeigte Probanden figurgleiche Frauenbilder, die quer oder längs gestreifte Kleidung trugen, und fragte, welche dicker oder dünner wirken. In Übereinstimmung mit Helmholtz’ Ergebnissen aus dem 19. Jahrhundert gaben die Probanden an, dass die Figuren mit Querstreifen schmaler aussähen. Um schlanker zu wirken, empfahl Thompson eine andere Taktik, die ebenfalls in einer optischen Illusion gründet: Schwarz tragen. Konstantin Nowotny

F

Fischerhemd Menschen des Meeres assoziiert man mit Ringelshirts, bis heute sind sie aus Shantychören kaum wegzudenken. Der Ursprung des gestreiften Fischerhemdes liegt an der Nordseeküste und in der Bretagne. Es war dort die traditionelle Arbeitsbekleidung der Seeleute. Ging jemand von Bord, war er dank des markanten Musters leichter in den Wellen erkennbar. Die bretonische Variante, auch Marinière genannt, hat exakt 21 Streifen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es Teil der französischen Marine-Uniform. Nur wenig später führte auch die russische Marine dieses Uniformteil ein, Telnjaschka genannt. Selbst die Taucher (U-Boot-Ausschnitt) tragen unterm Anzug geringelte Unterzieher. Tobias Prüwer

G

Grunge Wenn Subkulturen Einzug in die Mode des Mainstreams halten, dann tun sie dies meist nicht freiwillig. Die Kommerzialisierung von Gegenkulturen verläuft gnadenlos, und dass es bei diesen Prozessen der Usurpation zu Übersetzungsfehlern kommt, kann man vor allem am komplizierten Verhältnis zwischen Punk und Kapitalismus (Warhol, Andy) sehen. Kaum ein Festivallook kommt heute ohne den Verweis auf das Flanellhemd des Grunge aus. Kurt Cobain, der Übervater dieser Bewegung, verzichtete jedoch bewusst auf das männlich konnotierte Hemd der Holzarbeiter und trug stattdessen häufig das androgynere Streifenshirt. Tilman Ezra Mühlenberg

H

Hafen Man denkt eigentlich, es müsse von Streifenhemden nur so wimmeln in Rainer Werner Fassbinders Querelle, seinem letzten Film von 1982. Denn der Film nach dem Roman von Jean Genet, Querelle de Brest, spielt unter Matrosen ( Uniform) die sich rund um ein von Jeanne Moreau geleitetes Bordell am Hafen tummeln.

In Wirklichkeit blitzt es nur wenige Male an der einen oder anderen Gestalt auf, als hätte Fassbinder sich dazu entschieden, sparsam umzugehen mit diesem hocherotischen Signal. Anders als das weiße Unterhemd mit tiefem Brustausschnitt, das besonders die von Brad Davis gespielte Titelfigur oft trägt, entblößt das gestreifte Matrosenshirt den Körper nicht, sondern umhüllt ihn, lockend, aber wie auf Autonomie bestehend. Der künstlich-schwülen Atmosphäre von Fassbinders Spiel um Hingabe und Verführung, Betrug und Unterwerfung scheinen sich die Streifen immer wieder zu entziehen. Barbara Schweizerhof

P

Picasso Das bretonische „Marinière“, das „Trikot Rayé“ – oder ganz einfach das seit 1938 in Quimper von Armor Lux hergestellte Streifenshirt oder der Streifenpulli: Auch Picasso hatte welche im Schrank. Man kennt diese Bilder vom niemals müden Superschöpfer in dem legendären Kleidungsstück mit den 21 Streifen – für jeden Sieg Napoleons einen, Coco Chanel hat es in die Welt der Mode gebracht. Es steht bis heute für Ursprünglichkeit, für ein maritimes Leben, für die raue Arbeitswelt der Fischer.

Bekannte Fotografien von Picasso im Marinière machte Man Ray, auf einem hält er eine Pistole in der Hand. Das Berühmteste stammt von Robert Doisneau und wird heute noch in unzähligen Postershops on- und offline angeboten: Es zeigt Picasso an einem gedeckten Tisch mit den aus Brötchen gelegten Fingern: „Les Pains de Picasso“ – abgebildet, unter anderem in dem sehr schönen Band Ichundichundich. Picasso im Fotoporträt (Hatje Cantz, 2011). Marc Peschke

U

U-Boot-Ausschnitt Streifenshirt ist nicht Streifenshirt. Es gibt welche in Blau-Weiß und welche in Weiß-Blau. Punks mögen schwarze Streifen auf Rot, Kurt Cobain besaß neben einem blau-weißen Long Sleeve auch einen rot-schwarzen Fusselpulli in XXL (Grunge). Gelb auf Schwarz soll’s auch geben, nicht nur bei BVB-Fans oder Leuten, die denken, in der falschen Spezies geboren und eigentlich Bienen zu sein.

Das originale Streifenshirt soll 21 Streifen (➝ Fischerhemd) gehabt haben. Und einen U-Boot-Ausschnitt. Na und? Das ist wie mit Spaghetti Carbonara: dass dieses Armeleuteessen ursprünglich ohne Sahne zubereitet wurde, geschenkt. Wenn es einem so besser schmeckt, warum nicht? Egal was die Snobs sagen. Man lebt ja nicht im Museum. Also gern Streifen, mit Rundhals- oder V-Ausschnitt. Mit Kapuze oder Stehkragen. Mladen Gladić

Uniform Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit herrschte eine strenge Hierarchie, die auch mittels Kleiderordnung durchgesetzt wurde. Man markierte das gesellschaftlich Außenstehende unter anderem durch Streifen. Regional unterschiedlich konnten das mal ein, mal mehrere Streifen sein. Sie zeigten an: Diese Person übt einen unehrlichen Beruf aus, ist Prostituierte, Abdecker, Gaukler oder Henker. Auch der lästernde Puppenkasper trägt oft ein gestreiftes Gewand. Die Querstreifen haben sich in manchen Gefängniskluften über die Jahrhunderte hindurch erhalten. Im Karneval ist sie beliebte, weil einfache und trotzdem verwegene Verkleidung (Zebra).

Auch die Häftlingsbekleidung in den Konzentrationslagern war gestreift und hat sich in das Kollektivgedächtnis derart eingebrannt, dass die Modefirma Zara Kinderhemden vom Markt nehmen musste. Tobias Prüwer

W

Walter Vergiss ihn, sagen die Leute. Er ist nicht der Richtige für dich. Aber hat jemand Walter gesehen? Man kann ihn leicht erkennen. Er trägt ein rot-weiß gestreiftes Shirt und eine gestreifte Pudelmütze.

Ich würde ihn gern mal wiedertreffen, hab ich ihm gesimst. Er würde mich auch gerne wiedersehen, hat er geantwortet, nur nicht, wann und wo. Ich habe ihm dann was vorgeschlagen, aber seitdem hat er nicht mehr geschrieben. Letzte Woche hat ihn der Schwager meiner Cousine in der Bar gesehen. Vorgestern soll er auf dieser einen Party gewesen sein. Neulich ist er an der Schwester des Kollegen meiner besten Freundin auf dem Longboard vorbeigerollt. Oder? Alle sehen aus wie Walter. So viele Pudelmützen, so viele Streifenshirts. Aber es gibt nur einen Walter (Grunge). Oder gibt es ihn überhaupt? Wann sehen wir uns wieder? Walter, wo bist du? Ruth Herzberg

Warhol, Andy Oh ja, er hatte seinen Walter Benjamin gelesen. Wenn schon das Zeitalter der Reproduzierbarkeit angebrochen war, dann bitte konsequent: Aus dem Atelier wird eine Fabrik, das Serielle der Kunst wird gar nicht erst verborgen.

Das „striped shirt“ ist dafür ein gutes Symbol. Denn so oft hat es „Drella“, wie ihn seine Stars nannten – eine Mischung aus Dracula und Cinderella –, gar nicht getragen. Aber es gibt einige gelungene Fotos, die sich unzählige Male vervielfältigten, bis eben eine Assoziationskette entsteht. Striped shirt? Andy Warhol. Er hat das auch mit anderen Gegenständen geschafft: Polaroidkamera? Andy Warhol. Weiße Perücke? Andy Warhol. Pop? Na? In meinen Augen ist er der hellsichtigste Künstler (Picasso) des 20. Jahrhunderts. Er öffnet gewissermaßen bereits in den 1960er Jahren die Tür in die digital ver- und entnetzte Gesellschaft. Ja, auch das Wort „Superstar“ ist eine Wortschöpfung von ihm. Wer begreifen will, was gerade geschieht, kann mit Andy Warhols Schriften anfangen und wird belohnt. Marc Ottiker

Z

Zebra Zwischen französischem Design und spanischer Malerei dürfen amerikanische Comics nicht fehlen. Dass Streifen das neue Schwarz sind, ist auch an Batman nicht vorbeigegangen. 1960 stellt sich Batman dem Superschurken Zebra-Man (Walter) entgegen, einem Kleinkriminellen und Wissenschaftler, welcher durch eine Maschine seinen Körper mit magnetischer Energie aufgeladen hat.

Seitdem, durch schwarze und weiße Streifen gezeichnet, kann Zebra-Man mit seinem Gürtel alles in seiner Umgebung anziehen oder abstoßen. Durch einen Unfall wird der sonst so adrett, komplett in Schwarz gekleidete Batman zu Zebra-Batman, alles und jeden von sich abstoßend. Zum Glück findet sein getreuer Begleiter Robin einen Weg, die neu erworbenen Kräfte seines fast verhungerten Mentors zu neutralisieren und Zebra-Man aufzuhalten. Gabor Farkasch

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