Wer die deutschen Universitäten von innen kennt, muss die ersten Teile dieser Streitschrift für eine bessere Bildung nicht lesen. Sie schildern – genau beobachtet – Gewöhnliches aus dem Berufs- oder Studienalltag. Der erste Teil („Bologna: Vom Scheitern einer Reform“) fasst zusammen, wie sich die akademische Bildung in Europa in die derzeitige Sackgasse manövriert hat: Da wurde das amerikanische System blind kopiert, Qualität durch Management verdrängt und jede Neugier auf andere Länder in einer Reise- und Anrechnungsbürokratie – Stichwort Erasmus – erstickt. Eine junge Generation wird erfahrungs-, kompetenz- und inhaltsfrei – aber mit Zertifikaten – auf einen hochspezialisierten Arbeitsmarkt geschickt.
kt.Teil zwei des Buchs („Was ist Bildung?“) erinnert an die Gegensätzlichkeit von Ausbildung und Bildung, die auch denen offen steht, die keine Wissenschaftler werden. Lenzen erinnert daran, dass die deutschen Intellektuellen, die Krieg, Konzentrationslager oder Exil überlebt haben, Humboldts Idee einer allgemeinen Menschenbildung mit einer wichtigen Korrektur wieder aufgenommen hatten. Sie machten das „Standesdenken“ und den „überheblichen Separatismus“ jenes Bildungsbürgertums, das sich zuvor auf Humboldt bezogen hatte, mitverantwortlich für das Scheitern eines breiten Widerstandes gegen die Nazis.Tatsächlich kann es – kaum 100 Jahre nach dem Nationalsozialismus – nicht sein, dass die Erziehung nach Auschwitz in Vergessenheit geraten ist. Jede postfaschistische Bildungseinrichtung muss Abstand nehmen von der rein effizienten Verwertbarkeit von Wissen. Und dieses Wissen muss für alle zugänglich sein. Was dann unter Bildung im 21. Jahrhundert verstanden werden kann, zählt Lenzen in Form von Elementarkompetenzen auf: „denken, empfinden, ordnen, unterscheiden, sprechen und gestalten“. Diese Anleitung, sich selbst zu bilden, habe weder mit Denunziation noch mit Angst noch mit Übervorteilung zu tun. Dass eine solche Bildung nur gelingt, wenn man sich von durchkalkulierten Betriebsabläufen distanziert, sich in der Wissenschaft Zeit nimmt und den Studierenden die Zeit des Lernens gibt, wissen alle, die an Unis tätig sind. Theoretisch.Spannend wird es deshalb für diejenigen, die die prekäre Lage bestens kennen, erst im dritten Teil von Lenzens Buch („Die Zukunft universitärer Bildung“). Denn seine Vorschläge sind umsichtig, realitätsnah und radikal. Umsichtig durch die genaue Ausformulierung von Argumenten. Jetzt können weder Besserwisser gebraucht werden noch Saboteure und Generalverweigerer. Realitätsnah durch eine klare Handlungslinie. Denn: Für Besinnung ist es zu spät. Längst drängen Sekundärverwerter wie Akkreditierungsbüros, Rechtsanwälte, Rankinginstitutionen und Eventkulturen an die Unis heran und plündern die letzten Möglichkeiten, einen Ort außerhalb ökonomischer Interessen zu schützen, an dem – für eine begrenzte Zeit – kritische Reflexion stattfinden könnte, bliebe sie noch so ergebnislos. Radikal sind Lenzens Vorschläge durch ihre klare Absage an jede affirmative Partizipation. Wer Studierenden Bildung beibringen soll, darf sich keiner Erpressung beugen. Bologna benötige akademische Lehrer und Lehrerinnen mit der souplesse, diese Art von Gängelei zu unterlaufen.Euphorie adieuObwohl Bologna schon lange kritisiert wird, werden diejenigen, die in den 70er Jahren studiert haben, endgültig aus ihrem „Das wird schon werden“-Schlaf gerissen, wenn eigene Kinder Abschlüsse machen und der Schaden sichtbar wird. So ging es auch Lenzen selbst. Im Vorwort berichtet er aus den Studienerfahrungen seiner Söhne: systematischer Betrug bei Klausuren, Medikamente in Prüfungszeiten, gesellschaftliche Ablehnung und wirtschaftliche Degradierung von BA-Abschlüssen. Mehr Kluft zur sozialdemokratischen Bildungseuphorie ist nicht denkbar.Manche Begriffe bleiben etwas pathetisch, zum Beispiel „Menschenbildung“ oder „sittliche Pflicht gegenüber der Jugend“. Schließlich ist diese Jugend ein lukratives Marktsegment, und Vereine, Gremien oder Institutionen nehmen sich ihrer mit Feuereifer an. Doch Lenzen darf das; er ist Erziehungswissenschaftler und kennt die historischen Vorstellungen von erwachsenen Menschen, die, selbstbewusst und souverän statt egoistisch und geltungssüchtig, zu eigenständigem Denken und Handeln befähigt wurden.Dann erzählt der Autor auch aus der eigenen Jugend: von einem Ferienjob, in dem er und die Kumpels am Ende des Maschinenlaufbands Pralinenschachteln, die zuvor zusammengepackt worden waren, mit einem „Hämmerchen“ zerschlugen. Der Grund: Ärger über den zu geringen Lohn. Lieber Herr Lenzen, warum erzählen Sie uns denn das? „Zerschlagt die Konzerne“, „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ sind doch längst untergegangene Modelle sozialrevolutionären Aufbegehrens – und sei es nur mit einem Hämmerchen. Heute geht es um Anderes als um „mehr Geld!“.Am Ende des Buchs sind nur Details nicht stimmig: Lenzens Idee von Studenten, die „mit dem ganzen Elan ihrer Jugend“ lernen möchten, trägt verklärte Züge. Wer jetzt studiert, ist bereits neoliberal erzogen – und das womöglich ohne den Horizont von „denken, empfinden, ordnen, unterscheiden, sprechen und gestalten“.Freiräume im MassenbetriebDarüber hinaus führt die Internetsemantik, die das Kapitel „Bologna 2.0“ vorschlägt, um der Reform einer Reform einen Titel zu geben, in die Irre. Ist doch das Internet derzeit im Begriff, als virtueller Raum des freien Meinungsaustauschs in sich zusammenzustürzen. Wenn etwas heute keine Zukunft hat, dann die hyperdemokratische Großvision eines freien Netzes. Und es braucht keine „Bandenmitglieder“, die „von außen“ systematisch Klausurergebnisse klauen und verkaufen oder Gewalt anwenden, wenn sich jemand wehrt. Tricksen, täuschen, klauen: Das machen einzelne Studierende schon selbst.Zudem sind die Gruppierungen, die Dieter Lenzen in die Verantwortung nimmt, weitaus weniger homogen als von ihm dargestellt, auch wenn dies in einem Nebensatz schon eingeräumt wird. Es gibt nun mal eine Menge desinteressierte Studierende. Es gibt sogar solche, die sich mit größerem Eifer einem Bildungsbürgervandalismus des „Warum sich anstrengen für etwas, das umsonst zu haben ist?“ anschließen, anstatt ein Buch freiwillig zu Ende zu lesen. Aber es gibt auch ausgesprochen smarte Administrationen, die beides können: eine Verteidigung der Legalität und Notwendigkeit ihrer Abläufe im Griff haben und zugleich akzeptieren, dass Verwalten kein Selbstzweck ist. Und dann gibt es ja auch Professoren und Professoren, Wissenschaftler und Wissenschaftler. Auch innerhalb der fachspezifischen Arbeit wird um soziale, kulturelle und ökonomische Standards gerungen. Doch hatte bereits der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seiner Studie zum Homo academicus von 1984 enorme Schwierigkeiten zu erläutern, dass es ihm um eine strukturelle Problematik ging und nicht um eine persönliche Abrechnung mit dem Hochschulsystem. Systeme sollen wohl erhalten bleiben!So wären also Strukturen zu schaffen, in denen Lenzens „denken, empfinden, ordnen, unterscheiden, sprechen und gestalten“ wenn schon nicht honoriert, so doch zumindest geduldet würden. Und diese Strukturen wären keiner exklusiven Gruppe vorbehalten – Professoren, exzellenten Studierenden oder klar- wie weitsichtigen Verwaltungsbeamtinnen – , sondern jenen happy few, die sich im Seminarraum treffen, der, für eine bestimmte Zeit, von der Raumvergabe verbindlich reserviert wurde. Es kann eigentlich nicht sein, dass es solche freien Seminare im Massenbetrieb der Bologna-Uni in Deutschland nicht gibt.
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