Sturmläufe eines Königs

MAROKKO Mohamed VI. unterzieht sein Land einer Generalinventur und riskiert damit Hass und Feindschaft islamischer Fundamentalisten

Das Le Goeland in der Moulay Ali Cherif von Rabat ist eines des Restaurants, das besonders von Ausländern gern besucht wird. Das hat mit dem exzellenten Service zu tun. Aziz, der als Kellner schon in halb Westeuropa gearbeitet hat, übertrifft an diesem Abend auch die kühnsten Erwartungen. Zwar ist der 35-jährige Muslim - doch ihm vertraute europäische Gäste lädt er auf einen Cognac erster Güte ein. Gilt es doch, die Geburt seiner Tochter Hoda zu feiern: "Genau im richtigen Augenblick!", wie Aziz immer wieder bekundet. Er ist überzeugt: sie werde nie emigrieren müssen, um Arbeit zu finden - sie werde in Marokko das selbstbestimmte Leben führen können, das ihr Vater zu seiner anfänglichen Verblüffung bei jungen Europäerinnen kennen gelernt hat.

Gut, bis es soweit sein wird, müsse sich wohl noch viel verändern. Doch bis Hoda der Kindheit entwachsen sei, habe der vor zehn Monaten nach der 38-jährigen Herrschaft seines Vaters Hassan auf den Thron gelangte junge Thronfolger Mohamed VI. garantiert ein völlig neues Marokko geschaffen. In diesem Punkt kennt Aziz keine Zweifel. In festlichem Überschwang drängt er den Korrespondenten, der solle sich selbst ein Bild vom Monarchen machen. Das sei ganz einfach, man müsse bloß sein Tagwerk ein wenig früher als gewohnt beginnen: Mohamed VI. - gerade 37 Jahre alt - an Universitäten in Frankreich und Belgien ausgebildet, wo er kurz im Kabinett des EU-Komissionspräsidenten Jaques Delors gearbeitet hat, wohne nämlich nicht im Königspalast. Doch dort erscheine er täglich um acht Uhr früh zum Dienstantritt. Folglich müsse man es nur darauf anlegen, ihm auf seinem Weg dorthin zu begegnen. Den lege der Herrscher im übrigen häufig am Steuer seines Wagens zurück. Was schon deshalb nicht verborgen bleiben kann, weil der König im Gegensatz zu vielen seiner Untertanen an einer auf rot stehenden Ampel tatsächlich anhält.

Der Thron in Casablanca

Also bin ich am folgenden Morgen an der Avenue Mohamed V., die am Parlament und etlichen Ministerien vorbei zum Mechouar - dem Königspalast - führt, um Mohamed VI. zu sehen. Leider vergeblich. Den Grund dafür erfahre ich etwas später von einer der bizarren Figuren der marokkanischen Innenpolitik: Mohamed Laenser, der im Parlament das gewissermaßen oppositionell-loyale Spektrum der Berber repräsentiert, weist auf die Tradition marokkanischer Könige hin, nicht bloß von der Hauptstadt, sondern desgleichen auch immer wieder von anderen Orten aus zu regieren. Und an diesem Tag stehe der Thron in Casablanca, was im Falle von Mohamed VI. trefflich die durch ihn ausgelöste Aufbruchsstimmung zum Ausdruck bringe: "Die Gesellschaft bewegt sich, doch Seine Majestät stürmt voran!"

Als Beleg nennt der Berber-Politiker die in der Tat beachtliche Liste personeller Veränderungen, die auf Mohamed VI. zurückgehen: Erst einmal wurde der Sonderbeauftrage für die von Marokko 1975 besetzte West-Sahara abgelöst. Es folgten der Chef der Geheimpolizei und der Intendant des Staatsfernsehens - und schließlich der Mann, zu dessen engerem Zirkel alle die Gefeuerten gehört hatten: Dris Basri, der sich vom Polizisten zur skrupellosen grauen Eminenz im Schatten Hassans II. hochgedient hatte. Der Innenminister Basri galt als der unangreifbare Kopf des Majzen: der marokkanischen Spielart feudalistischer Günstlingswirtschaft, die ganz unten in städtischen Quartieren bei den Mkadim (eine Art Blockwart) beginnt und sich über die Caid (Distriktchefs) bis hinauf in die Machtzentren bei Hof fortsetzt.

"Hassan wird die Geschichte richten -

aber Basri muss wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden: wenn es möglich ist, hier in Marokko - und wenn das nicht geht, dann vor ein internationales Tribunal", erklärt Abraham Serfaty (74). Der prominenteste marxistische Denker des Landes verbrachte als Häftling Nr. 19.559 mehr als 17 Jahre im Zuchthaus, weil er sich öffentlich gegen die Okkupation der West-Sahara ausgesprochen hatte. Auf dem afrikanischen Kontinent war einzig Nelson Mandela länger aus politischen Gründen in Haft als Serfaty, der schließlich Anfang der neunziger Jahre ins Exil geschickt wurde: Dris Basri ließ ihn kurzerhand zum Brasilianer und somit zum unerwünschten Ausländer erklären. Nach acht Jahren in Frankreich kam Serfaty im Oktober 1999 zurück: Gebeten vom König. Auf die gleiche Weise kehrte nach 35 Exiljahren die Familie des legendären Sozialistenführers Ben Barka heim, den der marokkanische Geheimdienst am 29. Oktober 1965 vor dem Café Lipp in Paris entführen und danach ermorden ließ. Wie man inzwischen weiß, hatten dabei auch die Franzosen, die CIA und der Mossad die Hände im Spiel. Galt es doch, die westliche Wertegemeinschaft vor einem Roten zu schützen.

Im Salon von Dris Basri

Serfaty sitzt nun in Mohamedia zwischen Rabat und Casablanca im Rollstuhl vor dem kleinen Haus am Strand, das ihm ein Freund zur Verfügung gestellt hat, und blickt auf den Atlantik hinaus. "Ich empfinde keinen Hass", sagt der Mann mit dem zerzausten weißen Haar: "Ich sehe eine sich formierende Zivilgesellschaft und neue politische Strukturen. Eigentlich gingen alle bisherigen Schritte des Königs in die richtige Richtung." - Mit dem neuen Patriarchen sind allerorten neue Leute in Führungspositionen aufgerückt: fast durchweg Studienfreunde des Königs. In Marokko können sie nicht in Versuchung geraten, einem neoliberalen Turbo-Kapitalismus zu dienen. Hier trägt die Landwirtschaft 20 Prozent zum Inlandsprodukt bei - und in diesem Sektor sind noch 50 Prozent der aktiven Bevölkerung tätig, wobei 70 Prozent der 30 Millionen Einwohner unter 25 Jahre alt sind. Offiziell suchen mehr als 20 Prozent davon einen Arbeitsplatz, allerdings ist diese Statistik nur insofern aussagekräftig, als darin vor allem viele junge Leute mit abgeschlossenem Studium erfasst sind. In einem Land, in dem zwischen 45 und 55 Prozent nicht lesen und schreiben können, liegt die tatsächliche Quote weitaus höher.

Den meisten Marokkanern, die ihre Lebensumstände grundlegend verändern wollen, bleibt somit vorderhand nur die Arbeitsemigration nach Europa. Nach Erhebungen kennen 75 Prozent der marokkanischen Jugendlichen nur ein Ziel: Sie wollen die Meerenge von Gibraltar überqueren.

Die Regierung brachte jüngst gleichwohl ein Gesetzesvorhaben auf den Weg, das die Rechte der Marokkanerinnen gründlich verändern soll. Bisher dürfen sie noch immer schon mit 15 - auch als Zweitfrau - mit einem Mann verheiratet werden, der sie jederzeit wieder verstoßen kann. Gütertrennung, faire Scheidungsverfahren oder gar Schutz vor der weit verbreiteten häuslichen Gewalt sind nicht vorgesehen, will eine Frau einen Reisepass beantragen, so bedarf sie der Zustimmung ihres Vaters oder Ehemannes. Zineb Kader (33) ist eine der wenigen Anwältinnen mit eigener Kanzlei, die es bislang in Marokko gibt. Sie lebt in Tetuan, einem Zentrum der seit jeher rebellischen sowie wegen des an sich nicht gestatteten, doch stetig zunehmenden Cannabis-Anbaues wohlhabenden Riff-Region. Als Mohamed VI. im Herbst eine zehntägige Reise in diese Gegend unternahm, die sein Vater noch als Kronprinz blutig niedergerungen und dann nie mehr aufgesucht hatte, empfand das Zineb noch als "symbolische Handlung ohne wahre Bedeutung". Nun indes reiste sie mit ihrer Freundin Amal, die in Tetuan auf einem ziemlich einsamen Posten die Fahne des Feminismus hochhält, nach Rabat, um für die Gesetzesnovelle der königlichen Regierung zum Frauenrecht zu demonstrieren. Mit ihnen kamen wenigstens 40.000 - manche Teilnehmer sprechen von 100.000 - Marokkaner, die das Dämmern der Moderne mit einem ausgelassenen Straßenfest feierten. Zugleich jedoch marschierten in Casablanca nahezu eine Million meist bärtiger Männer sowie züchtig mit Kopftuch verhüllte Frauen - in streng getrennten Blöcken natürlich - mit drohend ernster Miene gegen solch unislamischen Frevel. Ein Triumph für Sheik Abdelsalam Yassin (72), der seit zehn Jahren ohne Gerichtsurteil zum Hausarrest in seinem Chalet verdonnert ist. Allein seine Tochter Nadia Yassin darf den Führer der islamistischen Al Adlwal Ihsan (Gerechtigkeit und Spiritualität)-Bewegung regelmäßig besuchen. Begleitet von bärtigen Leibwächtern, angetan mit einem Kopftuch, das alles Haupthaar verbirgt und einem bis an die Knöchel reichenden sackartigen Kleid, verkündet sie ausländischen Reportern in erlesenem Französisch, die in Aussicht stehenden Frauenrechte seien "eine authentische Provokation und der Versuch, das marokkanische Volk in einer heiligen Sache zu manipulieren". Dann referiert sie über das gigantische Immobilienvermögen ("40 bis 50 Milliarden Dollar"), das Hassan II. im In- und Ausland zusammengerafft haben soll und zieht daraus im Namen ihres Vaters den Schluss: "Wenn Mohamed VI. tatsächlich die Lebensbedingungen verbessern will, dann soll er sein Vermögen an die Armen verteilen."

Vorhaltungen wie diese bremsen den Sturmlauf des jungen Königs und bewegen ihn dazu, mitunter einen Schritt zurück zu gehen. Zwar berief er - das gab es an Marokkos Thron noch nie - einen Pressesprecher, um die Distanz zur Öffentlichkeit zu verkürzen. Diesen Job bekam ein Journalist aus der Redaktion von Le Journal - des fortschrittlichsten Blattes im Lande. Doch dann ließ der Herrscher eine Ausgabe ausgerechnet dieser Zeitung einziehen, weil sie ein Interview mit dem Führer der West-Sahara-Befreiungsfront Polisario gedruckt hatte. Was nur beweist, dass noch lange keine Lösung dieses Territorial-Konfliktes in Sicht ist.

Gegen ein Einlenken Marokkos in dieser Frage intrigiere - wie im Falle vieler Reformversuche - der alt eingesessene Verwaltungsapparat, sagt Abdelmalek Uardghin, der zu jenen jüngeren sozialistischen Technokraten zählt, die nun versuchen, frischen Wind in die Regierungsbürokratie zu bringen: "Seit wir in den Behörden sitzen, haben wir erkennen müssen, dass die Verhältnisse hier noch viel verheerender sind, als wir angenommen haben. Basri wurde zwar entfernt, doch sein Geist herrscht hier noch immer."

Im Salon der in der teuersten Gegend von Rabat gelegenen Villa von Dris Basri geht es noch immer zu, als sei der Hausherr faktisch der mächtigste Mann im Staate. In dem mit kostbaren Teppichen ausgelegten Empfangsraum sitzen nach alter Sitte die reichen Geschäftsleute und andere Honoratioren in ausladenden Polstermöbeln und schlürfen den von Dienern auf kunstvoll geschmiedeten Tabletts gereichten Tee, während sie geduldig darauf warten, einzeln zur gestrauchelten grauen Eminenz vorgelassen zu werden. Die Audienz verlassen sie dann zumeist mit einem Empfehlungsschreiben versehen, das offenbar noch immer Türen öffnet. Über Politik will Basri indes nicht reden - jedenfalls nicht mit einem Journalisten. Nur so viel: er habe ein Leben lang seinem Land und seinem Herrscher gedient. Und sollte der Ruf nochmals an ihn ergehen, er werde sich nicht verweigern.

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