Nach Lektüre des Klappentexts, der Kabale, Liebe und Ornithologie auf hoher See verkündet, regt sich der erste Widerstand gegen Antje Rávic-Strubels Sturz der Tage in die Nacht. Daran ändert auch die anerkennende Aufnahme in die Longlist des Buchpreises 2011 nichts. Allein, Voreingenommenheit soll hier nicht gelten, und knapp 450 Seiten später ist alles ja viel besser als befürchtet. Aber auch viel schlimmer.
Im Sommer 2009 reist Erik, Mitte 20 und fest entschlossen, das Studienfach zu wechseln, auf die dem schwedischen Gotland vorgelagerte Insel Stora Karlsö in der Ostsee. Dort forscht die Ornithologin Inez, Betonung auf "e". Wie Erik ist sie im deutschen Osten aufgewachsen, anders als das Chucks tragende Wendekind allerdings zu einer Zeit, als Jugendlich
eit, als Jugendliche noch in Nicki, Niethosen und Nylonanoraks gekleidet waren, Pfeffis lutschten und Plempe tranken. Aus Eriks Tagesausflug wird ein dreimonatiger Aufenthalt, der vom Sommer in den Herbst hinein dauert.Die von Inez erforschte Trottellumme verleiht dem, was sich zwischen diesen beiden ungeahnt bereits aufs Engste Verbundenen entspinnt, große Symbolik. Diese Spezies aus der Familie der Alkenvögel schiebt nachts ihre noch nicht flüggen Jungen von den Steilklippen. Doch statt zu zerschellen, gleiten sie ins Meer und lernen noch vor dem Fliegen das Schwimmen. Nicht minder hat beider Begegnung mit Rainer Feldberg zu tun, der mit dem gleichen Schiff wie Erik, nur weniger zufällig, aus Inez’ Vergangenheit auf der Insel anlangt.Trottellumme und Feldberg, schwedische Natur und DDR-Geschichte bilden das Setting für eine unwahrscheinliche Liebesgeschichte, die, bestimmt vom immer wieder formulierten Motiv der Suche nach ihrem Anfang, das Gegeneinander von Schicksal und Zufall verhandelt.Das Leben der anderenNun ist nicht die Unwahrscheinlichkeit des um Zufall und Schicksal angelegten Reigens das Problem, sondern das, womit Rávic-Strubel all dies unterlegt. Statt ihren Figuren ihre jeweils individuelle (DDR-)Vergangenheit zu lassen, wird deren Mit- und Gegeneinander in Referenz auf die Ödipustragödie zu einem Klischee aufgeblasen. Das wird an der in diesem Zusammenhang markantesten Figurierung anschaulich: Die vom Klappentext angekündigte politische Intrige entpuppt sich als die eines Mannes, der "sich nie ein eigenes Leben, immer nur das anderer zutraute". Dieses gegen das Weiß, das den Text dominiert, allzu schwarz geratende Abziehbild eines Stasioffiziers schlüpft in die Rolle der Atropos, der lebensabschneidenden Schicksalsgöttin. Nicht umsonst kürt er die Tollkirsche, Atropa baetica, zum Instrumentarium seiner insularen Intrige. Diese Intrige ist zwar nicht hehr, aber auch nicht politisch und hätte ihrer beigen Färbung nicht bedurft.Heillos mit antikem Stoff und zur Staffage geratener Zeitgeschichte überladen, bleibt, einmal auf Probe dieser pompösen Kulisse entledigt, etwas übrig, das genauso gut wie auf Antje Rávic-Strubels schwedischen auf Rosamunde Pilchers schottischen Steilklippen hätte stattfinden können.Doch soll, in Demontage der aristotelischen Prinzipien der Poetik, weiterhin gelten, dass dem unglaubwürdigen Möglichen für das literarische Gelingen nicht zwangsläufig das unmögliche Glaubwürdige vorzuziehen ist. Daher ist Sturz der Tage in die Nacht durchaus eine Lektüre wert. Aller motivischen Überladungen überführt, zeigt sich sein Gelingen in Sprache und Komposition.Das Textganze ist maritim orchestriert. Dieses Verfahren wird schon sehr früh angedeutet: "Die Ostsee täuscht das Meer gewissermaßen vor. Um die Glaubwürdigkeit der Täuschung zu erhöhen, bringt sie einzelne Elemente des Meeres ins Spiel: Salzwasser. Muscheln. Feuersteine und Lummen." Auch Sturz der Tage in die Nacht bedient sich in seiner Anordnung dieser Elemente (nur dass der Ostsee das Täuschungsmanöver letztlich besser gelingt).Der Klapperstein erweist sich hier als heimlicher Motor des 13 Kapitel umfassenden Romans. Zwischentitel benennen wesentlich an seiner Entstehung beteiligte Elemente: "Flint", "Flintschale", "Flintkugel", der versteinerte Schwamm "Plinthosella squamosa", und nicht zuletzt das "Meer", das steten Tropfens den Flint solange höhlte, bis der Schwamm in ihm zu klappern anfing. Verteilt auf die 13 Kapitel, ordnen sich um das mit "Flint" benannte die vier anderen Elemente einander wiederholend an. Der Flint allein muss seine Titelei nicht teilen, weil unter seinem Namen Anfang und Ende zusammenprallen, um auf die vorhergehenden und nachfolgenden Seiten auszustrahlen.Sommernachtsloses SpielVerschieden zum Geschehen distanzierte Perspektiven wechseln einander ab, fragen nach Alternativen, ohne sie bieten zu können, da konsequent rückblickend erzählt wird. Deshalb finden Alternativangebote in Konjunktiv Irrealis II statt. Heraus ragt Eriks aus der Ich-Perspektive erzählte Version der Geschichte. Er formuliert als einzig wirklich Ahnungsloser am vergeblichsten den Wunsch, vor das letztlich genau datierbare Ende seines unbeschwerten Mittzwanzigerselbst zurückkehren zu können. Unter seinem Blick gestaltet sich das Inselgeschehen als ein sommernachtloses Kammerspiel, das der Leserschaft in kühler Farbigkeit und reich an Vergleichen lautmalerisch nur so um die Ohren braust und klatscht. Alternierend mit anderen Versionen ergibt sich ein zu Auslassungen, Nachreichungen, Vorahnungen auseinandergefaltetes episodisches Ganzes, in dem, wie es einmal heißt, die Zeiten verschwimmen und die Rückblicke sich in Achronien auflösen.So führt Rávic-Strubel jene Auflösungen von Geschlechterzuweisungen als Zerrüttung fester Raum-Zeit-Gefüge fort, für die Kältere Schichten der Luft 2007 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.---Sturz der Tage in die NachtAntje Rávic-Strubel, S. Fischer 2011, 438 S., 19,95€
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