Suche ein letztes Mal

CHINA Über Tinte im Bauch und aufschlussreiche Teehaus-Gespräche

Sie sprechen genauso wie vorher - die Pekinger, als ob sie - nein, eine Zunge hat jeder - als ob sie eine Dattel im Mund hätten. Aber sie sprechen wieder merklich anders. Einen Schlüssel zu diesem Rätsel finde ich in einem Teehaus, das sehr stolz auf sein altes Pekinger Flair ist. Das mag auch an den Stammgästen liegen - zumeist Rentner aus dem Viertel. Menschen "mit Tinte im Bauch": ein pensionierter Geschichts professor zum Beispiel, der gern seine Studenten hierher mitbringt, so dass die jungen Leute eine Alternative zu den Disko- oder Karaoke-Partys kennenlernen. Oder ein Redakteur, den man den "alten Zeitungsmann" nennt, er hat einmal für die erste Zeitung der Stadt gearbeitet. Oder der Arzt für traditionelle chinesische Medizin. Seine Patienten mussten ihn selten ein zweites Mal besuchen, erzählt er, denn bei seinen Rezepten blieb Heilung nicht aus.

Der bei den Pekingern beliebte Jasmin-Tee löst die Zunge. Man kommt ins Gespräch. Und da bemerke ich, dass die vielen politischen Klischees und Jargons, die einst Bestandteil des Pekinger Dialekts geworden waren, wieder verschwunden sind. Sozialismus und Kapitalismus sind heute kein Thema mehr. Statt dessen wünscht man sich "ein starkes Land und ein reiches Volk". Nanu? Vorher hieß es stets "ein reiches Land und ein starkes Volk".

Doch die Zeiten haben sich geändert. China beginnt, Abschied von der tausendjährigen Armut zu nehmen. Die Chinesen sind längst nicht mehr "die Kranken Ostasiens". Der Zeitungsmann atmet merklich durch: "Reich werden ist glorreich" - dieser Satz von Deng Xiaoping ist zwar richtig, aber auch sehr einseitig... Ich schaue unwillkürlich über meine Schulter. Angst müsse man heute nicht mehr haben, versichern mir die drei neuen, alten Bekannten. Der Zeitungsmann meint, jeder darf heute alles sagen, ihm passiert nichts, solange er die Kommunistische Partei nicht auf offener Straße beschimpft. Jetzt nimmt der "Mediziner" den Faden auf. Nach seiner Meinung ist die grassierende Korruption Deng Xiaopings Schuld. Donnerwetter! Für eine solche Feststellung wäre man zu Lebzeiten Dengs ziemlich schnell im Gefängnis verschwunden. Aber offenbar ist es heute nicht mehr tabu, sogar Deng zu kritisieren. Klar - das ist wieder der Historiker - egal, ob man legal oder illegal sein Geld verdient, man ist glorreich, solange man reich wird.

Wenn man "Lao Deng" - den alten Deng - kritisieren darf, was ist dann mit Jiang Zemin oder Zhu Rongji(*)? Seit wann eigentlich steht der Betreiber des Teehauses hinter mir?

Es soll sich um einen Künstler handeln, der seine Gäste jeden Abend mit skurril-komischen Erzählungen amüsiert. Jetzt wirft er ein: Wir brauchen jemanden wie Jiang als Staatsoberhaupt. Er kann zwar allein nicht viel tun, aber es ist ihm gelungen, seine Position abzusichern. Er hat wenigstens für Stabilität gesorgt. Doch die allein reicht nicht - wir brauchen noch einen wagemutigen Feldherrn. Das ist Zhu Rongji, weil er die Korruption attackiert. "Ich habe keine Hintermänner, aber große Lust, gegen diese korrupten hohen Tiere, die Hintermänner haben, zu kämpfen", schrieb er einmal. Jiang hatte das gelesen und notierte: "Wer sagt, dass Zhu keine Hintermänner hat? Ich bin sein Hintermann!" - Zhu hat auch gesagt: "Ich habe 100 Särge, 99 für die korrupten Beamten, einen für mich." Ehrlich gesagt: Vor ein paar Jahren war ich sehr enttäuscht wegen der Bestechlichkeit überall, aber jetzt bin ich wieder voller Zuversicht.

Der Betreiber des Teehauses entschuldigt sich. Bald wird er geschminkt auf der Bühne stehen. Auf der Wand hinter dem Darsteller ist ein großes chinesisches Zeichen zu sehen und das bedeutet "Lachen". Ob seinen Darbietungen wirklich verständlich und vor allem genießbar sind? Ich bin unsicher. In Berlin gehe ich nie ins Kabarett und will daher auch jetzt das Teehaus lieber verlassen. Aber die drei Freunde bitten mich, noch einen Augenblick zu bleiben. Sie wollen gern wissen, was die Deutschen über China und die Chinesen denken. Man trifft in Peking nicht jeden Tag einen Landsmann, der als Journalist in Berlin arbeitet, meint der Geschichtsprofessor. Vorerst aber möchte ich hören, was die Chinesen über die Deutschen denken. Der Zeitungsmann lächelt, Deutschland ist für die Chinesen ein Land der Kultur und Technologie; die Deutschen arbeiten präzise und gründlich.

Ich protestiere erst, als die in China auch verbreitete Auffassung einfließt, dass Hitler ja wohl trotz allem ein fähiger Mann gewesen sei.

Jetzt allerdings darf ich über das deutsche Chinabild nicht länger schweigen. Ich beginne unsicher, deutsche Zeitungen präsentieren China gern als ein Land mit einem totalitären Regime, in dem es keine Demokratie gibt, die Menschen ohne Rechte sind und in Angst leben, die schwangeren Frauen ihre ungeborenen Babys zwangsweise abtreiben müssen. Und die Armee Tibeter und Moslems unterdrückt oder umbringt, weil sie sich vom Mehrheitsvolk der Han trennen wollten.

Meine Zuhörer werden ruhiger, ernster, nachdenklicher. Niemand sagt etwas.

Auf der Bühne geht das Licht aus, die Séance beginnt - und ich will gehen. Als wir einander die Hand geben, sagt der Geschichts professor: Gut, dass wenigstens Sie alles mit eigenen Augen sehen konnten. Dem pflichtet der Mediziner bei: Die Deutschen sollten zu uns kommen und selbst sehen, was hier los ist.

Vom Teehaus in der alten Südstadt fahre ich zu Pekings moderner Oststadt. Nach der Busfahrt muss ich nach Luft schnappen. Ein menschenwürdiger Stehplatz bleibt eine Rarität. - Ich bin auf der Suche nach meinen Lebensspuren in einem Quartier, in dem ich mehr als 15 Jahre gelebt hatte, bevor ich es als "Feind der Kommunistischen Partei" in Handschellen verlassen musste.

Nein, weder das alte Gebäude des Außenministeriums noch der Literaturverlag sind wiederzufinden. Und diese Straße von Dongdan bis Dongsi macht mich krank! Nur Läden, vollgestopft mit Textilien, Möbeln, Küchengeräten bis hin zu Papeteriewaren in fremden Mustern. Eine solche Straße kann man überall erleben - in Hongkong oder New York oder Montreal. Warum muss sie ausgerechnet in der Hauptstadt der Volksrepublik China liegen?

Erschöpft und deprimiert suche ich nach meinem einstigen Domizil in einem Gäss chen nahe dem Tempel-Markt - vergebens. Alles ist mir fremd geworden. Aufgeben? Da höre ich eine innere Stimme: "Suche ein letztes Mal - jetzt oder nie!" Mit "letzter" Beharrlichkeit gelingt es mir schließlich doch, das Haus zu finden, in dem ich einst Abschied von Peking nehmen musste - vor mehr als 30 Jahren. Es wäre ein Wunder, wenn man sich hier noch an mich erinnern sollte. Nach zweimaliger höflicher Ablehnung - was in China üblich ist - trete ich nach der dritten nötigenden Einladung, dem heutigen Bewohner folgend, in den Hof. Erschrocken und traurig sehe ich, wie diese kleine, aber behagliche Idylle verkommen ist. Unter dem Dattelbaum steht ein häßlicher Schuppen. Für den Hof bleibt wenig Platz. Meine Gastgeberinnen - die Nachbarinnen von früher - haben mich zwar vergessen, aber das stört nicht weiter: Der Fremde wird mit saftigen Birnen und Jasmintee bewirtet - und wieder löst das die Zunge.

Das Gespräch beginnt mit der Frage: Inwiefern lebt man heute besser? Wir essen besser, kommt sofort die Antwort. Das stimmt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Die Reisrationen sind längst abgeschafft. Und? Und - folgt die Antwort ein wenig später - wir sind besser gekleidet. Das stimmt auch. Sogar bei den Bettlern am Hauptbahnhof habe ich keine Flicken mehr gesehen. Was noch?

Was noch? Die Frauen sehen einander an. Die Wohnverhältnisse? - frage ich vorsichtig und höre, dass nach fast einem halben Jahrhundert Volksrepublik die Bewohner des alten Gässchens mitten in der Millionenstadt immer noch ohne Spültoiletten leben, sich mit einem Loch im Boden des Hinterhofs behelfen müssen. An Wasserleitungen gibt es nur eine im Hof - für alle vier Haushalte gemeinsam. Nach dem Straßenverkehr muss ich gar nicht fragen. Ich habe das Gedränge und Chaos am eigenen Leib erfahren. Bekleidung, Essen, Wohnen und Verkehr - das sind wohl die vier Hauptkriterien, an denen Chinesen inzwischen ihren Lebensstandard messen.

Eine Frau hat möglicherweise meine Gedanken erraten. Aber trotzdem sind wir zufrieden, denn wir leben wirklich besser als vorher, versichert sie. Womit ist man unzufrieden? - Die Frauen sehen einander wieder an. Warum sollen wir ihm nicht die Wahrheit sagen? beginnt eine ältere Frau. Mit der Partei selbstverständlich. Wir pflegen immer zu sagen: "Wir essen Fleisch und schimpfen auf die Partei." Sehr anschaulich. Fleisch essen ist ein Zeichen bescheidenen Wohlstands. Die Armen essen Gemüse, Melonen und Reis, die besser Betuchten erlesene Delikatessen aus den Bergen und Meeren.

Und weswegen schimpft man? Korruption und Vergünstigungen, schießt die Antwort heraus. Die Korruption ist jetzt besonders unerträglich, weil auch viele Juristen bestechlich sind - außerdem die Armee, die Polizei, die Justiz, die Staatsanwaltschaft, die Wirtschaft... Alle? Nein, selbstverständlich nicht, aber die Mächtigen und die, die Hintermänner haben. - Ich denke an das Gespräch über Premier Zhu Rongji im Teehaus.

Besonders verhasst sind die Kinder der hohen Funktionäre, die "Prinzen". Die Privilegien, die sie sich erlauben, sind unerhört. Wir, die kleinen Leute, sollen fürs Vaterland hart arbeiten. Die da oben, die schicken ihre Kinder ins Ausland. Die verbitterte Stimme kommt aus einer Ecke des Hofes. Außerdem, meint eine andere Stimme, die Partei steckt ihre Nase in alles. Sie kümmert sich um Dinge, die nur uns etwas angehen. Wahrscheinlich ist niemand vom Straßenkomitee unter den Leuten, denke ich, sonst würden die Hausfrauen schon Angst vor "den Augen und Ohren" der Partei haben. Oder gilt auch das nicht mehr?

Was ist mit der Massenarbeitslosigkeit? Vielleicht nicht das richtige Thema für die Hausfrauen. Aber sie gehen darauf ein, ihre Männer oder Söhne nähmen das ziemlich gelassen, denn man hätte in den maroden Staatsbetrieben sowieso keine Chancen mehr. Wenn man das sinkende Schiff verlässt, hofft man auf bessere Möglichkeiten. Viele haben nach einer kurzfristigen, kostenlosen Umschulung eine neue, manchmal sogar bessere Arbeit aufgenommen. Diejenigen, die lange nichts finden, sind selbstverständlich unzufrieden. Aber in Peking ist dadurch die soziale Balance nicht gefährdet. - Noch nicht, ergänzt eine junge Stimme.

Die Datteln vom Baum im Hof sind besonders saftig und süß. Irgendwann habe ich - in meinen Erinnerungen kramend - erwähnt, dass es auch früher schon so war. Zum Abschied gibt mir eine Frau alle Datteln, die sie pflücken kann. Ziehen Sie lieber Ihre Jacke an. Im November ist es sehr kühl am Abend. Die Frauen verabschieden mich - winkend, lächelnd. Komm' doch wieder, ruft eine. Sie scheinen glücklich zu sein, auch wenn sie nicht zufrieden sind.

Die Chinesen waren schon immer ein leicht zu beglückendes Volk, denke ich. In Deutschland lebt man um so vieles besser als hier, aber es wird stets geklagt. Können wollen die Chinesen so viel mehr einstecken? Woran liegt das? Nur am Konfuzianismus? Merkwürdig, ich denke nicht an den Sozialismus.

(*) Seit 1998 Premierminister

Unser Autor ist emiritierter Professor für Germanistik aus Shanghai. Er hat in China unter anderem für Mao Zedong und Zhou Enlai gedolmetscht. Seit 1988 lebt er in Berlin und arbeitet unter anderem als freier Journalist.

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