Suchen und Finden

Harmonisch In seinem Roman "Fundbüro" frönt Siegfried Lenz der Lust an der täglichen Begegnung mit Verlierern

Ein gewaltiger Schuss frühe Gruppe 47, was den Realismus angeht, dazu ein humoristisch gestimmter Johannes Mario Simmel - das ist Siegfried Lenz, dessen vierzehnter (!) Roman Fundbüro im Sommer erschienen ist. Großgeworden in den Spuren der berühmten Gruppe hält Lenz weiter unbeirrt an der Form eines Böllschen Realismus fest, der auf milde Weise Humanismus und Aufklärung miteinander verbindet, also: ebenso bildet wie unterhält und dabei durchaus aktuelle Themen des Zeitgeschehens behandelt. Hinzu kommt eine weitere Marke der Gruppe 47: die Figur des - wie man es damals genannt hat - Nonkonformisten, der bei Lenz in die Gestalt eines liebenswerten Außenseiters und Karriereverweigerers geschlüpft ist.

Henry Neff heißt er, und im Fundbüro des Hauptbahnhofs einer Großstadt, Hamburgs, arbeitet er, gemeinsam mit dem alten Bußmann, Herrn Harms, dem Dienststellenleiter, und der kühl wirkenden, beherrschten Paula, deren sommersprossiges Gesicht ihn sogleich ahnen lässt, "dass er es einmal berühren würde." Und es entwickelt sich ein kleines Kammerspiel, dessen Handlungsorte schnell aufgezählt sind: verschiedene Wohnungen, das Haus von Henrys Eltern, der Platz vor Henrys Bleibe. Als weitere Figuren treten noch auf: die Schwester Barbara und der junge russische Mathematiker aus Saratow, Dr. Fedor Lagutin, den Henry - wie sollte es wohl auch anders sein - auf dem Bahnhof kennen gelernt hat.

Es geht um kleine Geschichten des Verlierens, Suchens und Wiederfindens, herzergreifende Szenen vor dem Schalter des Fundbüros, um Skurriles und - gelegentlich auch - Kleinkriminelles; darin verstrickt Versuche zärtlicher Annäherungen zwischen der glücklos verheirateten Paula und dem erotischen Taugenichts Henry. Hart neben diesem idyllischen Rayon ums Fundbüro dann die facts of life der sozialen Welt - das sind Konzentrationsmaßnahmen und Umstrukturierungen bei der Bahn, die Bußmann schließlich seinen Job kosten, dann auch eine Horde randalierender und prügelnder Jugendlicher. Also alles wie im wirklichen Leben. Bloß dass bei Lenz die Guten ein bisschen besser und die Schlechten nicht gar so schlecht sind, sondern "schuldlose Verlierer", wie Henry einmal gegenüber Barbara bemerkt. Auch wenn der gute Fedor, nachdem er auf einer Fete von dummschwätzenden Studis beleidigt worden ist, halsüberkopf und maßlos enttäuscht in seine Heimat zurückkehrt ("Den Pfeil, der dich trifft, kannst du herausreißen, Worte aber bleiben stecken für immer"), am insgesamt beim Lenz-Leser evozierten Eindruck von beruhigender Harmonie ändert dies nichts. Optimismus überwiegt, wofür vor allem dann das versöhnliche Ende des Romans einsteht: nach leichteren Irritationen bleibt Henry doch in seinem Job - und der Leser mag sich mit ihm an den kleinen Freuden zwischen Schalterraum und Lagerhalle für verlorenes und vergessenes Gepäck erwärmen: "Also, was mir gefällt - und sogar mehr als gefällt -, das ist die tägliche Begegnung mit Verlierern, mit den Leuten, die uns einen Verlust anzeigen. ... Und diese Freude, wenn Hoffnung aufblitzt und ich sie trösten kann. Mitunter, wenn ich einem Antragsteller zu seinem Eigentum verhelfen kann, bin ich nicht weniger glücklich als er selbst."

Dazwischen die message, wie es sich für die Autoren der frühen Gruppe 47 gehört: genieße froh, was du nicht hast - aber sei dabei vor allem du selbst. - Auf die Frage und den Vorwurf des Onkels, dass Henry ohne jegliches Ziel nur so vor sich hinlebe, antwortet dieser sibyllinisch: "Dafür komm ich gut mit mir aus." Vielleicht ist das auch Lenz´ aktuelle Antwort 20 Jahre nach Erscheinen von Sten Nadolnys massenhaft gelesener und noch massenhafter inzwischen als geflügeltes Wort verbreiteter Entdeckung der Langsamkeit auf eben diesen Gegentrend - nämlich eine kleine Apologie der Verweigerung und des Entzugs!

Siegfried Lenz: Fundbüro. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 335 S.,
21,90 EUR


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