Im Jahr 1974 sammelte Sharon Henderson Taylor 400 Begriffe für geringe Intelligenz. Viele waren einmal wertneutral gemeint oder klangen positiv. Doch fanden sie Eingang in die Alltagssprache, gerieten sie rasch zu Abwertungen, sodass die Wohlmeinenden ihre Suche nach neuen Bezeichnungen fortsetzten. Der Linguist Steven Pinker nannte das die „Euphemismus-Tretmühle“. Müssen wir vor dieser kapitulieren? Die Fahndung nach besseren Worten für besondere Gruppen einstellen, mit der ja immer die Hoffnung auf eine bessere Stellung derselben einhergeht?
Zunächst ist zu verstehen, wie dieses semantische Absinken funktioniert. Ein drastisches Beispiel ist das Wort „Idiot“. Im 19. Jahrhundert wollten Reformpsychiater damit sagen: Person, die besonderer Förderung bedarf, aber lernfähig und beschulbar ist, Teil der menschlichen Gemeinschaft. Doch seit Ende des 19. Jahrhunderts und in der Euthanasiedebatte, die sich ab 1920 zuspitzte, wurde das Wort immer böser, im Alltag wie in der Bürokratie. Unter den Nazis war „Idiotie“ dann Stichwort für 200.000 Morde. Trotzdem dauerte es bis 1958, bis auf Vorschlag einer Elterninitiative der Neologismus „geistige Behinderung“ aufkam – der sich seither auch verschlechtert: Heute soll als „bekloppt“ beschimpft werden, wer als „behindert“ oder „minderbemittelt“ tituliert wird. Oder nehmen wir „Asylant“. Formal ist das nur eine Beschreibung: Person, die Asyl beantragt. Und doch sind wir wohl einig, dass diese Bezeichnung nicht mehr geht.
Die „Pejoration“ wirkt oberflächlich: Schon eine bestimmte maliziöse Intonation signalisiert ein „Ihr wisst ja, was ich eigentlich meine“ – und irgendwann macht dieser Ton die ganze Musik. Darunter liegt aber ein tieferer Zusammenhang: Die strukturelle Gewalt, die Praxis und das Eigenleben der Institutionen, die auf solche Bezeichnungen gebaut sind, dringt immer wieder in sie ein.
So war die „geistige Behinderung“ Teil des Konzepts, ein Netz beschützender Einrichtungen von Fürsorge und Betreuung zu errichten. Ein Kernstück waren Behindertenwerkstätten: Rehabilitation durch Arbeit. Doch am Ende bewirkten diese auch eine Abtrennung der Arbeits- und Lebenswelten vom Gesellschaftsdurchschnitt, was die WHO Deutschland immer wieder vorwirft. Im Absinken der Bezeichnung findet sich also ein Abglanz einer zum Schlechten verselbstständigten Praxis. Ähnlich fußt unser Zurückschrecken vor der Bezeichnung „Asylant“ auf einer Ahnung von der repressiven Logik, die seit drei Jahrzehnten das Asylrecht prägt: Wir wollen Menschen nicht auf das reduzieren, was diese Maschine in ihnen sieht.
Wenn aber neue Bezeichnungen zur Verschlechterung tendieren, solange sich die bezeichneten Verhältnisse nicht grundlegend ändern, was heißt das für den Umgang mit besagter Tretmühle? Hilft es den Menschen im Asylrechtsapparat, wenn wir sie „Geflüchtete“ nennen? Ist es bloß „politisch korrekt“, folgenlose Wortkosmetik, wenn wir uns sprachlich bemühen? Im Einzelfall ausschließen kann man das nicht. Viel öfter aber signalisiert die Weigerung, sich solchen Bemühungen zu unterziehen, dass jemandem die Verhältnisse im Grunde egal sind.
Zentral ist bei all dem die Frage des „Wir“. So hat die sich selbst so nennende Krüppelbewegung seit den 1980ern bewirkt, dass Schimpfworte wie eben „Krüppel“ oder „Spasti“ an Virulenz verloren haben. Das abwertende „behindert“ zielt heute kaum noch auf motorische Eigenschaften. Entscheidend war das Mitreden derer, die nicht nur Objekt von Fürsorge sein wollten. Nun macht das Netzwerk „Mensch zuerst“ einen Vorschlag: „Wir wollen nicht ‚geistig behindert‘ genannt werden. Wir sind Menschen mit Lern-Schwierigkeiten.“ Reagieren wir mit Achselzucken?
Es geht bei der Sensibilität für diese Besonderheitsbegriffe nicht um das Finden des Wegzauberworts, das Diskriminierung magisch beendet. So etwas gibt es nicht. Aber trotzdem darf die Suche danach nie aufgegeben werden. Nicht nur, um jenen Verschlechterungsmechanismus nicht einfach hinzunehmen. Schon die Mühe dieser sich wiederholenden Suchbewegungen zeigt uns allen, dass ein Problem auch weiter besteht. So ist jene Tretmühle zwar oft ermüdend, doch umsonst bewegen wir sie nicht.
Kommentare 11
Mikroaggression!?. Wir verändern alles an Sprache mit Ihren Schablonen an Gewalt, damit sich im praktischen Umgang (Mobbing) nichts verändern muss.
Was ist falsch an dem Wort Asylant und warum soll Geflüchteter besser sein als Flüchtling (zumal beide völkerrechtlichen Schutz genießen). Es geht doch meistens nur darum, ein ungutes Gefühl zu bekämpfen, dass sich bei der Erwähnung von Opfern unserer Zivilisation einstellt. Es gibt sicher Fälle, wo man Begriffe verbessern kann, aber heute geht es doch eher darum, sich durch Sprachpolitik ein Überlegenheitsgefühl zu erschleichen, das sich mehr und mehr von der ethischen Handlungsebene entfernt, ja sogar zu neuen Diskriminierungen und sozialen Konflikten führt. Freunde von mir, die sich sehr über die bevormundende Ächtung des Wortes Zigeuner ärgern, das sie als ihre Eigenbezeichnung als deutsche Sinti definieren, haben mir schon früh erklärt: »Die Gadje (Nichtzigeuner) tun das nicht für uns. Die tun das für sich selbst, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Uns schaffen sie damit nur mehr Probleme!«
Letztlich geht es darum, was die verwendeten Begriffe beabsichtigen sollen. Sollen sie als Schmähbegriffe diskreditieren, sollen sie in camouflierender Weise die eigene Weste reinwaschen oder eine besondere Spezies kennzeichnen. Drei Beispiele:
Schwule: Sie haben das Diskreditierende des Ausdrucks weitgehend relativiert, indem sie den Begriff sozusagen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeführt haben, etwa dadurch, dass sie sich selbst selbstbewusst als Schwule bezeichnen.
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„Geistige Behinderung“ bezeichnet zunächst einmal wertfrei einen bestimmten Intelligenzstatus des Intelligenz- Spektrums schlechthin. Die Errichtung eines Netzes beschützender Einrichtungen von Fürsorge und Betreuung war der Einsicht geschuldet, dass diese Klientel zeitlebens auf kompensatorische Assistenzen angewiesen ist. – Erst die diskriminierende Absicht, Andere verletzen zu wollen, verwendete diesen ursprünglich statistischen Normbegriff als Schmähbegriff. – Derartige asoziale Entgleisungen sind nie in den Griff zu kriegen, zumal es schon einmal eine staatliche Obrigkeit gab, die „Geistig Behinderte“ vergaste.
„Was die WHO Deutschland immer wieder vorwirft“, ist dessen SEPARIERENDES „Netz beschützender Einrichtungen von Fürsorge und Betreuung“. Die WHO favorisiert ein inklusives Vorgehen, das „Geistig Behinderte“ in die gesellschaftlichen Systeme und Einrichtungen einschließt.
Deutschland hat UN-Behindertenrechtskonvention mit Zusatzprotokoll am 24. Februar 2009 ratifiziert, und damit sind sie deutsches Recht. Es handelt sich also um einen Gesetzesauftrag, ein Ewigkeitsvorhaben, das nicht recht vorankommt.
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„Hilft es den Menschen im Asylrechtsapparat, wenn wir sie „Geflüchtete“ nennen“
Das ist Camouflage, die eigene Weste reinwaschen, denn es handelt sich in Wahrheit um Ausgebombte, Vertriebene, Flüchtlinge, die vom Propagandaapparat des verkommen Wertewestens so genannt werden, obgleich eben dieser verkommene Wertewesten sie mit völkerrechtswidrigen Kriegen zu Ausgebombten, Vertriebenen, Flüchtlinge gebombt hat.
Mensch! - (nicht "Flegel") ... Ihrem Kommentar kann ich voll und ganz zustimmen!
Deutsch ist, ein Ding um seiner selbst willen zu tun: Der Autor führt zwar recht treffend aus, warum die ganze euphemische Umbenennerei nichts bringt. Seine Folgerung: Es trotzdem weiter zu tun – auch wenn es sinnbefreite Beschäftigung um der Beschäftigung willen ist.
Ich sehe das ganz ähnlich wie Sie, jan humba.
Herrn Rasch muss man fragen, in welcher Sprach(um)welt er eigentlich lebt, er lebt jedenfalls in einer anderen als ich. Asylant, Flüchtling pejorative Begriffe? Für mich keineswegs! Ich will all denen keinen Fußbreit weichen, die Begriffe von hohem ethischen Inhalt semantisch verbiegen, indem sie sich vermessen, diese oft auf eine leidvolle Geschichte verweisenden Begriffe mit ihren neuen, menschenverachtenden Inhalten füllen. -- Ich darf auch von mir behaupten, dass ich mich seit langem praktisch-aktiv um Flüchtlinge und Asylanten kümmere, teils sehr intensiv. Mögen Herr Rasch und seine ach so sprachsensiblen Beipflichter das auch tun, dann wäre ihre Art der "Sprachpflege" zumindest persönlich glaubhafter. Doch anscheinend geht es diesen Leuten mehr um Worte als um Taten -- so können sie sich auf sehr kommode Weise ihr Gewissen rein halten.
Ein (schon etwas älteres) Beispiel für PC-Sprachmüll: https://pastebin.com/vYsPWMJQ
Einfühlsam kommentiert vom Blogger Fefe: https://blog.fefe.de/?ts=addeacc3
An Alle ,die bisher kommentiert haben : "Je m`accuse :ich habe bisher in meinem Leben schon so viele Zigeuner gegessen (also Zigeunerschnitzel) dass ich eigentlich vor den ISTGH gehörte.Noch schlimmer:ich habe sogar ´ne zeitlang Zigeuner "geraucht"(die frz. Marke Gitanes).
Et voila,pour les autres :Die,die den "Sprachmüll" als solchen beseitigen möchten,sollten ihre eigene Intention überprüfen.
Ps: Wer das "Binnen I ,Oder das* ,oder das : , gut findet ,sollte vielleicht sich mal bewusst werden dass damit das "weibliche" immer als "Anhängsel"behandelt wird. Oder muss man(n) jetzt in einem brieflichen Schreiben die Anrede mit Sehr geehrte HERREN und Damen beginnen ?
Ja klar, die Frau wurde bekanntlich aus der Rippe des Mannes geschaffen. Das Frauenbild der Gegenwart definiert sie als Appendix. Z.B. "Vertreter:innen", "Genoss:innen", "Ein:e solche:r": Der Autor wagt das gleich elf Mal. Hauptsache hip sein! – Nicht wahr?
Eine entwürdigende Appendix-Sprachregelung, bei der die weibliche Form immer an der männlichen anhängt. So etwas passiert auch in der Freitag-Community. - Und nicht nur einmal.
Sehr bedenkenswert, Ihr Kommentar! Ich glaube auch, dass der PC-Sprech - oder was man dafür hält - zu einem Gutteil eine Selbstbefriedigungs-Übung derjenigen ist, die nicht selbst Diskriminierungsopfer sind.
"Ähnlich fußt unser Zurückschrecken vor der Bezeichnung „Asylant“ auf einer Ahnung von der repressiven Logik, die seit drei Jahrzehnten das Asylrecht prägt: Wir wollen Menschen nicht auf das reduzieren, was diese Maschine in ihnen sieht."
Schön - dann gehen Sie aber auch darauf zum Wohnheim, knüpfen Bekanntschaften, interessieren sich für die Menschen, Freunden sich an und helfen ihnen bei allen behördlichen Hürden. Wenn dass zuviel ist, es gerade zeitlich halt schlecht ist usw., so bleiben die Menschen im Wohnheim Ihnen fern und es ist albern, sie sich einzubilden, die Vermeidung der Bezeichnung "Asylant" - die ja nun eben keine Beschimpfung ist - würde auch nur irgendetwas, und sei es noch so gering, an den Zuständen ändern. Geschweige denn das Ersetzen der vermeintlich schlechten oder falschen Bezeichnungen mit "Geflüchteter". @Jan Humba oben hat ganz recht. Mit einem "geflüchteter Mensch" auf den Lippen und einem Latte aus fair gehandelten Biozutaten darauf kann der Tag des woken westlichen Urbanisten ja nur gelingen. Schön für ihn.