Süchtiges Entgegenfiebern

Zwei Blickrichtungen Die Volksbühne in Berlin mutet mit den Inszenierungen René Polleschs und Frank Castorfs im einheitlichen Bühnenbild der "Neustadt" seinem Publikum einiges zu

Als Bert Neumann die Idee von der Stadt im Theater entwickelte, beschäftigte ihn eine Hochhauslücke in New York: 50 cm. "80 cm", wandte ich korrigierend ein. "Na gut, 80 cm". In dieser Lücke also hätte ein asiatischer Schuster sein Geschäft gehabt. Dann redete er noch über die Rosa-Luxemburg-Straße und die Hochhäuser, die bald den Alex umstellen sollen. Er wolle das alles zusammen und dicht, und nicht das Hässliche nach draußen verlagert für eine grüne Idylle. Er wolle das behalten, Stadt mit allen ihrem Dickicht, mit Lücken und Fallen, auch Rotlicht. Es ist jetzt drinnen, im Innern der Volksbühne, etwas ganz anderes entstanden; viel weniger Dickicht, viel weniger Falle, unschuldiger und vieldeutiger als ein Nachbild der Stadt draußen sein würde.

Von René Pollesch, einem der beiden Regisseure, die in Neumanns "Neustadt" ein Stück inszenieren, wird eine Auseinandersetzung mit Motiven von John Carpenter und Rainer Werner Fassbinder versprochen: 24 Stunden sind kein Tag. Escape from New York. Die Rede ist von der Bergung des US-Präsidenten aus einer Rettungskapsel in der Tiefgarage des World Trade Centers, der in seinem Armband den Code zur Rettung der Menschheit vorm Untergang trage. Den Rettungsauftrag bekommt das Individuum Snake, dem andernfalls nur noch vierundzwanzig Stunden zum Überleben bleiben. Diese Informationen werden uns als eine Art Trockenfutter hingeworfen. Fassbinder und seine Not, Carpenter und seine wilden Gleichnisse, das wären schon passende Motive, aber die schlanken, beweglichen jungen Frauen, diese Schicksalsgöttinnen, Grazien, "temporären Huren", Existenzkämpferinnen, Sprachrohre Polleschs, sind am dramatisch Direkten dieser Motive nicht wirklich interessiert. Eigentlich nämlich geht es vor allem darum, dass der Pollesch-Diskurs weiter geht. Ihm folgt das Publikum willig - solche, die inzwischen mit dem Diskurs vertraut sind, oder deren Vertraute sie gerade damit vertraut machen. Sie alle folgen dem Diskurs mit jenem erstarrten Lächeln auf den Gesichtern, das die Erkenntnis mit Sicherheit entgegennehmen will.

Ein "Pollesch" hat keine Story, hat keinen Höhepunkt und keine Konfliktlösung; er ist ein Zustand. Jeder Pollesch-Diskurs geht darum, wie man sich seinen Überlebens-Unterhalt besorgen kann, ob man jemanden lieben kann und ob das alles durchdringende Untergangsbewusstsein, die alles durchdringenden ökonomischen Zwänge oder Tricks von Gewinnorganisation uns auch innerlich erfassen und unser Leben abtöten.

Dieser Grunddiskurs ist der Grunddiskurs jeder (bürgerlichen) Gesellschaft. Er wird bei Pollesch nur einfach ohne Verpackung in Historie, ohne Verkleidung in Theaterfiguren und ohne nacherlebbare Fabel geführt. Und das interessiert die Polleschzuschauer. Wissend, dass es keine Lösung und Erlösung geben wird, wollen sie diese Art, ihr Hauptproblem zu erörtern und zu definieren, auch erlernen. Sie wollen diesen, ihren Zustand bei Pollesch im eigenen Kopf aufblitzen sehen.

Einige schon oft gelaufene Runden der Textmeile Pollesch werden wieder gelaufen: Erstens wird der Text ständig wiederholt, zweitens variiert, drittens geschrieen oder durchs Mikrophon geflüstert, viertens durch die laut eingreifende Souffleuse gestützt. Der Theaterabend dauert weniger als 90 Minuten. Davon sind ungefähr 1/4 dröhnende Songs, 1/4 sind Pausen und Stille, stumme Gänge, Videos mit den Pantomimen des Hasses und der Hast, der Angst, der Liebe und der Erholung durch Wassertrinken, 1/4 sind Variationen oder Zitate alter Polleschpositionen und 1/4 sind neuer Text. Zum schon vertrauten Lauf der Kurve und ihren Mutationssprüngen kommen hier weitere am Schwanz der Erkenntnis gepackte Einsichten. Denen fiebern die Zuschauer süchtig entgegen, ich auch.

Aber braucht Pollesch zu alledem die "Neustadt"? All diese Räume, Verstecke und Spielkisten? Wir könnten mit den drei jungen Frauen, die den Diskurs vortragen, auch in irgend einer Sporthalle, einem Hotelfoyer, auf einem Bahnsteig versammelt sein. Gags, Slapstick und Videobeobachtungen sind dem Regisseur inzwischen sowieso weniger wichtig als in früheren Inszenierungen; er setzt fast nur noch Mikros und Musikmaschinen ein. Pollesch nutzt das große Haus, als Ort, wo er "sich besser verkaufen kann" und verweigert ihn gleichzeitig auf seine Weise.

Sein Publikum muss dabei allerhand körperliche und geistige Anstrengung auf sich nehmen: Es hockt dicht an dicht auf den Sperrholztreppen und blickt auf die andere Seite, auf das Baugerüst. Geduckt, gekrümmt, und gedrängt guckt es aus seiner hölzernen Spielzeugstadt heraus auf eine ungemütliche, leere, eiserne Welt, in die die Darstellerinnen selbst sich selten und nur in erzwungenen Kampfpositionen hineinwagen. Meist hocken sie mitten im Publikum in einer Art Kampfpause, wie in einer Herde von Lämmern und Böckchen, sich anschreiend, stoßend, anblökend, oder aneinander schmiegend.

Das Licht wird für das Spiel nicht gelöscht, es ist gleichbleibend nüchtern hell. Wir sollen durchblicken wie der antike Zuschauer unter der Sonne, die es an den Tag brachte. An dem Material, der Maserung von Sperrholzplatten, dem Zink der Gerüststangen kann der Zuschauer seinen Realitätssinn abreiben.

Die Castorf-Zuschauer, die die Bearbeitung des Romas Der Idiot sehen wollen - der zweiten Inszenierung in der "Neustadt"-, sind im Gegensatz dazu mehr voneinander isoliert; sie sitzen im Metallgehäuse festgeschraubt, werden gedreht und mit Videokameras an die Vorgänge, die ihnen nicht "einsichtig" sind, herangefahren. Sie können Fetzen schöner, atemberaubender Erkenntnisse ahnen, am Abgrund tiefer Schrecken mittaumeln, sie können quälenden Ausbrüchen nicht ausweichen, aber es wird geradezu verhindert, dass sie durchblicken.

Von der Höhe moderner Materialien, aus den Gestängen von verzinktem Stahl, unter Monitoren und Kabelsträngen blickt der Castorf-Zuschauer auf leicht zusammengeschraubte öffentliche Orte, an denen sich aber dann wie in einem guten amerikanischen Film das Intime peinlich veröffentlicht. Gut, so soll es sein.

Niemand wird leugnen, dass die illusionäre, traditionellere Kulissenwelt, die Neumann in den schattigen Winkel neben das sich drehende Baugerüst an die Brandmauer des Bühnenhauses stellte, stark beeindruckt. Ab und zu wird der Zuschauer vor diese "wirkliche Kulisse" gedreht, deren gefährliches Halbdunkel, deren tragisch romantische Farben den Ort bilden, an dem sich der Gute zum Narren halten lässt und an dem sich der Mord an der Schönen vorbereitet, wo es Bilder nach Bildern gibt und das Bild, ein Christus zum Beispiel, höchste "russisch ikonenhafte" Bedeutsamkeit bekommt.

Es handelt sich um zwei mehrstöckige Lückenbaufassaden mit den vertrauten Maßen der Thermo-Einglasfenster, hinter deren Gardinen die gefährliche Wohnlichkeit des Bürgertums schimmert, die wir alle erahnen, wenn wir nachts durch Straßen gehen oder im Zug an Häusern neben den Gleisen vorbeifahren und uns vorzustellen versuchen, was hinter den trübhellen Scheiben geschieht.

Meine eigene Neigung geht aber dahin, mindestens den Text, alles was gesagt wird, hören zu wollen. Dabei bleibt immer noch offen, was ich den Worten entnehmen kann, aber einfach mit Phantasie ergänzen, wie man das bei einem Bild-Ausschnitt immer kann, das geht mit der Sprache, dem Ausdruck von Denken nicht. Das Wort, das doch im Raum ist, wo nur?, das muss zu finden sein. Erst mal hören, dann gut oder nicht gut verstehen. Nicht hören können und deshalb nicht verstehen, das ist schwer erträglich. Wenn ich auch einsehe, dass ich nicht durchblicken kann, eine absichtlich oder versehentlich schlechte Akustik wie in der Inszenierung des Idioten bin ich nicht bereit zu tolerieren.

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