In den Baumkronen oben in den Bergen hängen die Gewitterwolken. Gartenstühle werden kreischend über den Steinboden gezogen, Betten quietschen unter dem Druck von jungen, matten Körpern. Ältere Menschen liegen apathisch neben einem morastigen Pool herum. Die Frustration und der Ekel sind ihnen ins Gesicht geschrieben, nur der Alkohol vermag sie in Gang zu setzen. Jugendliche durchkreuzen mit ihren Gewehren einen Wald, einem von ihnen fehlt ein Auge. Eine Kuh versinkt im Sumpf und wehrt sich gegen einen angriffslustigen Hund. Mit diesen ersten Bildern aus dem "Morast" - wie der deutsche Titel das spanische La cienaga übersetzt - bereitet Lucrecia Martel atmosphärisch, motivisch und klanglich den Weg ins Zentrum ihres Films. Dort herrscht ein drängendes
drängendes Phlegma, eine surrealistische Spannung und eine Art poetischer Kühle - so feucht und heiß es hier die ganze Zeit auch sein mag. Denn La cienaga spielt im Nordwesten Argentiniens, nahe der Grenze zu Bolivien. Allerdings ist das die Art von Information, die sich nur aus Presseheften beziehen lässt. Dort findet sich auch eine Beschreibung des Inhalts, den der Film selbst wesentlich zurückhaltender preisgibt. Auf dem Landsitz La Mandragora verbringen zwei miteinander verwandte Familien den Sommer, heißt es da. Die "vom Leben gezeichnete", aber dominante Mecha auf der einen und ihre Cousine Tali auf der anderen Seite bilden die zentralen Figuren ihres jeweiligen Familienanhangs; die Ehemänner daneben sind kaum wahrnehmbar, und bei ihren insgesamt acht Kindern, die sich im Haus, im Wald, in der nahen Stadt herumtreiben oder auf dem Bett herumdösen, ist eine Unterscheidung zunächst ebenfalls schwierig. Die Regisseurin Martel destilliert eine häusliche Welt, die wie verkapselt wirkt und in der Frauen und Mädchen die Überzahl stellen. Den durchgehenden Faden einer Handlung, Erzählung oder eines Dramas scheint sie nicht zu benötigen. Ihr dramatischer Minimalismus, wenn man es denn überhaupt Dramatik nennen soll, was hier die Spannung erzeugt, stützt sich auf ein Netz aus Blicken, kleinen Situationen, Gesten und alltäglich verkürzten Dialogfetzen. In einer Szene stürzt Mecha am Rand des Pools und schneidet sich an einem zersplitterten Weinglas die Haut auf, die das Brustbein überspannt. Eine Weile liegt sie im eigenen Blut am Boden, aber niemand kommt ihr zu Hilfe. Die Teilnahmslosigkeit dieser Menschen mag schockieren - längst eingefangen von der Trägheit des Films erscheint dieser Unfall dem Zuschauer allerdings auch nicht besonders dramatisch. Aber es sind Szenen wie diese, die die Tonlage und den Rahmen der Erwartungen setzen. Im Umgang mit dem Alltäglichen beweist Lucrecia Martel eine große Souveränität, weshalb sich im Film auch nie jene Sorte von Banalität breit macht, wie sie den Filmproduktionen von der nördlichen Halbkugel so oft unterläuft, wenn es darum geht, sich der großen Sinngebung zu verweigern. Das mag auch daran liegen, dass Martel in La cienaga konsequent eine gestalterische Ebene einzieht, die gerade die alltägliche Banalität mit Gefahr und Hintergründigkeit auflädt. So werden die apathisch dahingleitenden kurzen Szenen nicht selten von abrupten Bewegungen und schockartigen Mikroereignissen oder der plötzlichen Eskalation einer Gruppensituation aufgepeitscht. Trotz dieser surrealistisch bedrängten Grundatmosphäre steht das dialog- und handlungsarme Dasein dieser Menschen aber nicht völlig im gesellschaftlichen Vakuum. Beständig läuft im Hintergrund ein Fernseher, der die klimatische Situation verdoppelt und für Produkte wirbt, die eine Linderung des Hitzeschwalls versprechen oder endlos vom Ort einer religiösen Vision berichtet, an dem sich täglich mehr Menschen sammeln. Tali will am Wochenende nach Bolivien fahren, um das Kaufkraftgefälle auszunutzen. Die angestammten Beziehungsgefälle im eigenen Land - etwa im Verhältnis von Hausbesitzern und Hausangestellten, hier also zwischen den indigenen und den europäischstämmigen Bevölkerungsteilen - werden verbal aufrecht erhalten, wo eine gewisse Verwahrlosung sie zu verwischen droht. Ständig werden Einschätzungen über die "Indios" zum Besten gegeben. Die Kinder unterscheiden sich darin nicht von ihren Eltern: "Indios" arbeiten nicht, so erfährt man, gehen nicht ans Telefon, wenn es klingelt, sie ficken Hunde, wollen immer nur tanzen oder liegen "mit der ganzen Familie fummelnd auf dem Bett herum". Die deutsche Titelergänzung verschiebt in der Übersetzung den Sumpf zum Morast und verstärkt dadurch auch die Lesart des Films in Richtung Décadence. Es ist aber sehr die Frage, ob man der durchblutungsgestörten Atmosphäre von La cienaga wirklich einen Willen zur Gesellschafts-Metapher unterstellen muss, also den Versuch, Bilder für ein postdiktatorisches Argentinien zu finden, die den Dreiklang von Niedergang, Chaos und Verrohung bedienen. Das würde eine Eindeutigkeit gerade da behaupten, wo eigentlich Unbestimmtheit und eine biografische Atmosphäre die herausragenden Eigenschaften sind. Wenn, dann ist der Blick in La cienaga nicht auf Gesellschaft, sondern eher auf "Biologie" eingestellt. Lucrecia Martel hat keinen besonderen Respekt vor der Integrität des menschlichen Körpers; wie zur Verschärfung der Situation fügt sie ihren Personen zahlreiche Wunden, Verletzungen und Entstellungen zu. Verwachsene Zähne, ein ausgeschlagenes Auge, eine nach einer Schlägerei verquollene Nase und verschiedene Hautstücke wollen versorgt sein. Ein Junge hält den Atem an, um zu sehen, wie lange er das durchhält. In der darauf folgenden Einstellung stößt seine Mutter Zigarettenqualm tief aus ihren Lungen. Für Martel scheint der menschliche Körper ein Material zu sein, dem sie bis in die Öffnungen und tabuisierten Zonen hinein nachspürt. So entsteht eine Stimmung latenter Gewalt, und es wäre nicht verwunderlich, wenn aus La cienaga plötzlich ein Splatterfilm würde. Das geschieht nicht, tatsächlich schlägt der Film eher die Richtung des Erotischen ein. Diese Erotik hat jedoch nichts mit den gewohnten Vorstellungen von körperlicher Anziehung und deren Darstellungsstandards zu tun. Körper suchen den Kontakt zu anderen Körpern, liegen neben-, manchmal übereinander; Füße kommen mit Armen zusammen, die, über den Körper des anderen geworfen, Übergriffe sein können, manchmal gestattet und manchmal zurückgewiesen. Jedenfalls wird so ein Schwebezustand erzeugt, den gewisse forschende Blicke noch verstärken. Die 15-jährige Momi sucht immer wieder eine vielleicht sexuelle Nähe zur Hausangestellten Isabel. Die jungen Männer werden zu Objekten junger Frauen, manchmal durch aggressive Provokation, dann wieder mit lächelnder Übereinkunft, und dieses Interesse schließt Mitglieder der eigenen Familie ebenso wenig aus wie das ethnische Andere. Es ist naheliegend, in der Besonderheit dieses Films das spezifisch Lateinamerikanische zu entdecken. Aber solche Annahmen bleiben letztlich unbeholfen und führen auch dann in die Irre, wenn von dort ein Filmboom nach dem anderen zu vermelden ist. Lucrecia Martel selbst hat solche Lesarten stets abgelehnt und lieber auf ihre persönlichen filmischen Einflüsse verwiesen. Es ist nicht überraschend, dass es mit Bresson, Kubrick und Bergman die besonders Auratischen und Kühlen der Filmgeschichte sind.La cienaga ist ein schönes Beispiel für ein jüngeres Kino, das sich nicht von internationalen Storyvorschriften einschüchtern lässt und selbstbewusst unsentimental, "zwiespältig" und fleischlich ist. Wo es keine konsistenten Geschichten gibt, da werden auch keine zwanghaften Erklärungen, Motivierungen und umständlich ausgelegten Linien fällig. Das Fehlen dieser Zwänge erlebt man in diesem Film als große Befreiung.
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