Superpower: Kopfschmerzen

Was läuft Unsere Autorin hätte gerne ein bisschen mehr Angst um „Jessica Jones“. Spoiler-Anteil: 13%
Ausgabe 27/2019

Mit der Frage „welche Superkraft wäre die Beste?“ kann man sich stundenlang unterhalten, wenn man dazu aufgelegt ist. Ganz vorn stehen (zumindest bei Kindern) „Unsichtbar sein“ oder „Fliegen können“, dicht gefolgt von „extreme Stärke“, „durch Wände gehen“, „Gedanken lesen“ und „die Zeit anhalten“. Dinge wie „Blitze aus den Augen schleudern“ oder, etwas befremdlicher, „sich bei Aufregung in ein starkes, aber tumbes grünes Monster verwandeln“, belegen eher die hinteren Plätze.

Und doch führen Marvel (und DC) bekanntlich seit Jahrzehnten Superhelden für jede erdenkliche Kraft im Repertoire. Dass Jessica Jones (Krysten Ritter), die superstarke, superfeministische und supersarkastische Protagonistin der gleichnamigen Netflix-Marvel-Erwachsenenserie, ihrem neuen Bekannten Eric eine „bescheuerte Superkraft!“ konstatiert, muss nicht verwundern. Eric Gelden, gespielt von Benjamin Walker, tritt in der dritten Staffel in Jones’ düsteres, von der Verbrecherjagd und der Familien-Traumata-Aufarbeitung gebeuteltes und mit literweise Whiskey geschmiertes Leben. Seine wirklich „bescheuerte“ Superkraft: Er bekommt Kopfschmerzen, die sich in Nullkommanichts bis zur Migräne steigern, wenn er jemanden sieht, der oder die etwas „Böses“ plant oder getan hat.

So steht der baumlange Drei-Tage-Bart-Eric, der – nach ein wenig hübsch alkoholschwangerem Hofieren in einer dunklen Bar – einigermaßen schnell Jones’ rares Vertrauen gewinnt, mit ihr vor Wohnungstüren, hinter denen angeblich „Böse“ lauern, und drückt sich leidend die Fingerspitzen an die Nasenwurzel wie Diva Norma Desmond es machen würde: Auch die letzte Staffel der Serie wartet mit wunderbar angelegten Figuren auf, klischeefrei und komisch, genderfluid und charmant. Jones ist dabei finster und morbide wie eh und je, hat sie doch – zu allem Überfluss – in der letzten Staffel ihre Mutter verloren. Getötet wurde die Mutantin ausgerechnet von Jones’ Nenn-Schwester und bester Freundin Trish „Patsy“ Walker, einer ebenfalls spannend ambivalent angelegten Blondine mit schwer lastenden Kinderstar-Erfahrungen und einer ihrerseits übergriffig-ausnutzenden Mutter.

Jede einzelne Frauenrolle, kein Zufall, ist stark, in dieser von Melissa Rosenberg nach den Comics erdachten Serie: Jones, Walker, Walkers ehrgeizige Show-Mutter Dorothy (Rebecca De Mornay), Jones’ on-off-Anwältin Jeri Hogarth (Carrie-Anne Moss), deren wieder aufflammende Beziehung zu ihrer College-Liebhaberin (Sarita Choudhury) dem Publikum ein paar im Superhelden-Milieu immer noch seltene Lesben-über-50-Liebesszenen beschert (wenn auch etwas einfallslose, in denen sexy Cello gespielt wird). Dazu gesellt sich ein echt mieser Böser, dessen Hobby, ohne spoilern zu wollen, etwas von Michael Powels Protagonisten in dem 1959 entstandenen Peeping Tom hat.

Zudem haben die Autoren der Serie wieder einige, wenn auch viel zu wenige clevere Apercus und Anspielungen versteckt in ihrer ultradunklen, mit Unschärfen spielenden Großstadtserie: „Ich finde, du bist mehr Mood Ring als Telepath“, schnappt Walker gegenüber dem telepathisch-migräninen Eric. Wieso kommen Serienmörder immer aus kleinen ländlichen Orten, wird später bei einem Serienmörder-Suchtrip konstatiert. Sie sei doch nur eine „Feministen-Verteidigerin“, wird Jessica kurz später von einem misogynen Tatverdächtigen gescholten. Und dass am Ende die großartigen Le Tigre ihr Keep on Living singen dürfen, ist kein Zufall. Sondern eine Botschaft.

Dass Marvel seinen Superhelden-Kanon für Erwachsene, zu dem neben Jones auch Luke Cage, Daredevil und Iron Fist sowie verschiedene Team-Efforts gehören, mit dieser Staffel nun komplett zum Erliegen bringt, ist also, trotz gravierender erzählerischer Schwächen auch bei Jones, extrem schade. Es steckte soviel Potential in den diversity-freundlichen Charakteren – und der desillusionierten Privatdetektivin Jones hätte man gern noch ein wenig länger und mit dichter geschriebenen und weniger jugendfreien Büchern zugesehen. (Auch wenn Privatdetekteien die am meisten fiktional missinterpretierten Branchen der Welt sind).

Vielleicht liegt es daran, dass trotz aller guten Ideen der glaubwürdige, notwendige Kern der Geschichte fehlt: Um Jones hat man einfach nie Angst. Weil sie superstark ist. Und zur Not eh alle unter den Tisch trinken kann.

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