Süßer Vogel Freiheit

Russland Die sichere Wiederwahl vor Augen fragt Präsident Putin nach dem Preis der bisherigen Reformpolitik

Wladimir Putin kann damit rechnen, bei den Präsidentschaftswahlen am 14. März mit einem Anteil von bis zu 75 Prozent der Stimmen bedacht zu werden. Ein Sieg in dieser Höhe wäre einmalig im postsowjetischen Russland. Vorgänger Jelzin musste stets durch den zweiten Wahlgang. Ein Präsident, nicht nur unschlagbar, sondern alternativlos. Sehnt sich Russland nach den demokratischen Läuterungen eines turbulenten Jahrzehnts wieder nach dem gebieterischen Übervater?

Putin geht einer zweiten Amtszeit entgegen, von der er unter Verweis auf die Verfassung behauptet, es werde seine letzte sein. Man darf bezweifeln, ob es wirklich so kommt. Putins Ziel jedenfalls scheint klar - wann auch immer das sein wird, er will seinem Nachfolger einen ökonomisch starken und politisch stabilen Staat übergeben. Er lässt bei seinen wenigen öffentlichen Auftritten vor dem Wahltag keinen Zweifel an seiner Überzeugung, die Bürger Russlands hätten sich "endgültig zu Gunsten der Freiheit" entschieden, obwohl er sich darüber im Klaren sein muss: für ein Drittel der Bevölkerung kann das süße Wort "Freiheit" bitter klingen. Nicht zufällig fragt denn auch der Präsident: "Welchen Preis haben wir für die Freiheit gezahlt?". Und zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion 1991 gibt der höchste Amtsträger Russlands eine Antwort, die bezeugt, dass der Kreml die Schwere der Krise einräumt, der sich Staat und Gesellschaft noch immer zu erwehren haben. Wenn der Präsident diesen Zustand beschreibt, wählt er eine Sprache, die Millionen verstehen: Ausstehende Löhne und Renten seien zu beklagen. Es gäbe Streiks von Bergleuten und Lehrern, steigende Steuern, galoppierende Konkurse, Katastrophen wie erst dieser Tage wieder in Moskau - es marodiere ein in Terrorismus ausartender Separatismus. Allerdings unterbleibt jede überzogene Dramatisierung: der Staat steht nicht am Rande einer tiefen Schlucht und droht abzustürzen.

Bei alldem hat sich Putin noch nie darin gefallen, das Erbe seines Vorgängers zu beklagen. Der Name Jelzin fällt kein einziges Mal. Nur gelegentlich klingt an, in welcher Talsohle Russland war, als 1999 die Präsidentschaft wechselte. Man erinnert sich einer sehr emotional gefärbten Phrase gleich zu Beginn seiner Amtszeit, als Putin vor Journalisten erklärte, der "staatliche Mechanismus ist gestört und kracht in allen Fugen". Als studierter Jurist, Aufklärer aus Berufung und Technokrat im Denken hatte er alle Voraussetzungen, um zu erkennen, wie verrottet die Staatsmaschinerie damals war. Putin fühlte sich von den Demokraten der Perestroika ebenso terrorisiert wie den regionalen Autokraten in der Provinz und sah nur einen Ausweg: Die "Diktatur des Gesetzes" und eine harte Machtvertikale sollten künftig die politischen Reformen flankieren. Heute kann niemand bestreiten, dass der russische Staat wieder an Statur und Effizienz gewonnen hat. Jene Erosion staatlicher Macht, wie sie Ende der neunziger Jahre zu beobachten war, ist überwunden.

Dies hat logischerweise dazu geführt, dass sich die Ökonomie erholt. Das Bruttoinlandsprodukt stieg seit 2000 um 30 Prozent, die Inflation ging auf ein Drittel zurück, der Binnenmarkt profitiert von wachsendem Verbrauch. Russlands Unternehmer verachten die eigene Währung nicht länger als "Holzrubel" und ziehen sich eher aus einem schwächelnden Dollar zurück. Dass es einen Stimmungsumschwung gibt, haben bei den Parlamentswahlen im Dezember besonders die Kommunisten zu spüren bekommen.

Dennoch muss der Präsident unumwunden zugeben, dass sich eine Mehrheit in ihrem Anspruch nach mehr Lebensqualität nicht respektiert fühlt. Keine ausschließlich soziale Frage, auch eine nach Werten und Zielen, denen sich Russland künftig verschreiben will. Sie ist weder mit dem Verweis auf die gigantischen Ressourcen des Landes noch ökonomische Entwicklungswege hinreichend zu beantworten.

Boris Kaimakow ist politischer Kommentator der Agentur RIA Nowosti


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