Hartz, Titten Bier
Wir hatten uns für den Nachmittag verabredet, um die Papiere mal gemeinsam durchzugehen. Zwar gibt es diese Anlaufstellen, wo kompetente ABM-Kräfte beim Ausfüllen der Arbeitslosengeld II-Anträge behilflich sind, aber wir wollten, so lange es eben ging, anonym bleiben. H. hatte Bier mitgebracht, und das war gut so. Denn, als wir zum gemütlichen Teil unserer Verabredung übergehen wollten und H. sich über meine Schallplattensammlung hermachte, waren meine Vorräte bereits erschöpft.
"Das ist total out, Mann", kichert der arbeitslose öffentlich-rechtliche Rundfunkredakteur, "voll die 70er, aber irgendwie richtig gut."
"Sag ich doch", sage ich und nehme noch einen kräftigen Zug.
"Dreh mal um", meint H., der sich rücklings auf dem roten Afghanen ausgebreitet hat.
Ich raffe mich auf und merke, dass ich auch schon ganz gut bedient bin. Das Wenden der Schallplatte erscheint mir jetzt, da ich direkt vor dem Plattenspieler stehe, ziemlich kompliziert. Man müsste das Vinyl vorsichtig vom Teller heben, im Freien Stand irgendwie wenden, es dann wieder auf den Plattenteller (Vorsicht die Plexiglashaube!) zurück legen, wobei darauf zu achten wäre, die Schallplatte mit dem kleinen Loch in ihrer Mitte in den dafür vorgesehenen winzigen Metallstift einzustöpseln... - Ach was, denke ich, wozu der ganze Zirkus. Die Seite eins ist es durchaus wert, nochmal abgespielt zu werden. Vorsichtig führe ich den Tonarm ein kleines Stück nach rechts, bis der Motor anspringt und die LP sich zu drehen beginnt. Dann setze ich die Nadel behutsam abwärts auf die unsichtbare Rille. Ein kurzes Knacksen zunächst und schon knallt das laute Saxophon- und Trompetengefurze der Breckerbrothers aus den Lautsprecherboxen.
"Wow...", schwärmt der arbeitslose öffentlich-rechtliche Rundfunkredakteur, "was für´n Blech!"
Ich setze mich und mache es mir auf dem Teppich bequem.
"Weißt du, bis vorhin war Zappa in New York für mich nichts weiter als einfach nur Auch-eine-Zappa-Platte", fährt H. fort, "aber jetzt..."
"Sag ich doch."
"Pst", zischt H.
Wortlos lauschen wir Zappas Titties Beer, und wir behalten unser Schweigen bei, bis das elegische I promise not to come in Your mouth ausklingt. Und plötzlich dämmert es uns, dass auch wir beide sterben müssen. Irgendwie, irgendwann. Früher oder später. Vielleicht bald.
"So´n Typ wie der", ruft da der arbeitslose öffentlich-rechtliche Rundfunkredakteur H., "so´n Typ wie der hat heute überhaupt keine Chance. Und das ist gut so! Viel zu kompliziert das alles. Kapiert doch keiner. So einen kannste heutzutage nicht mehr vermitteln. Die Leute wollen jetzt was anderes. Keine Inhalte, sondern Verpackungen. Also: Kleine saubere, bigotte Flittchen, bisschen naiv, bisschen dumm, Hauptsache: irrsinnig sexy, die so tun, als ob sie es tun, und das auch noch verdammt gut anstellen."
"Ich glaube die Leute haben schon immer etwas anderes gewollt", sage ich.
"Glaub ich auch", nickt H. "Dreh mal um!"
Ich stehe auf, gehe zum Plattenspieler und blicke, während ich wieder mal überlege, wie man so eine Schallplatte am besten im Freien Stand wendet, zum Fenster hinaus. Zischhhhh.... macht es im Hintergrund. H. hat unser letztes Bier geöffnet. Ganz schön verqualmt hier, denke ich und öffne das Fenster einen Spalt weit. Es ist kalt draußen. Vom Himmel fällt Schnee.
Netz Boden
Warte nur mein kleiner Liebling, denkt die alleinstehende Akademikerin S. und huscht im Nachthemd hinüber an ihren PC. Während der Rechner hochfährt, greift sie nach der Zigarettenschachtel und steckt sich eine an. Noch einen Schluck Kaffee und rein ins Netz. Login: ReifesLuder69 Passwort: ******* - Go!
ReifesLuder69: na du?
JungerMond15: Hi
ReifesLuder69: *smile*
JungerMond15: *smile*
ReifesLuder69: wie gehts dir?
JungerMond15: kannst du es nicht nochmal für mich tun? ich kann es einfach nicht vergessen *smile*
ReifesLuder69: *smile* cs?
JungerMond15: was heißt cs?
ReifesLuder69: cyber sex
JungerMond15: meine eltern sind in die Kirche gegangen, und ich bin allein
ReifesLuder69: und du willst jetzt dass ich dich verwöhne
JungerMond15: ja, das würde mir gefallen
ReifesLuder69: was hast du an
JungerMond15: eine jeans und ein t-shirt
ReifesLuder69: ich ziehe dir dein t-shirt aus
ReifesLuder69: ich fahre dir mit meinen händen über deine brust
JungerMond15: ja
ReifesLuder69: soll ich nun weiter machen
JungerMond15: ja bitte
JungerMond15: darf ich mich etwas zurücklehnen dabei?
ReifesLuder69: ja
JungerMond15: mach ich
ReifesLuder69: ich fahre mit meinen händen über deine brust und streichle über sie
ReifesLuder69: jetzt fahre ich dir mit meiner zunge über deine brustwarzen
ReifesLuder69: und sauge an ihnen
ReifesLuder69: zuerst die eine dann die andere
ReifesLuder69: fahre mit meinen händen tiefer
JungerMond15: oh
ReifesLuder69: bis zu deiner jeans und ziehe sie dir aus
ReifesLuder69: und jetzt bist du nackt
JungerMond15: oh nein
ReifesLuder69: hallo?
ReifesLuder69: *smile*
ReifesLuder69: hallo!
ReifesLuder69: bist du noch da?
JungerMond15: Wer sind Sie?
ReifesLuder69: ich heiße maria und du?
JungerMond15: Was fällt Ihnen ein!
ReifesLuder69: ich habe doch nur gefragt
JungerMond15: Wie alt sind Sie?
ReifesLuder69: 32
JungerMond15: Mein Sohn ist 15!!!
ReifesLuder69: das wusste ich nicht
JungerMond15: Ich werde mich beschweren.
ReifesLuder69: es tut mir leid
JungerMond15: Ich finde das unerhört!
ReifesLuder69: ja, ich kann sie gut verstehen
JungerMond15: Warum tun Sie das?
ReifesLuder69: weil es männer gibt, die das wollen
JungerMond15: Ich warne Sie. Lassen Sie meinen Sohn in Zukunft in Ruhe!
ReifesLuder69: ja das mache ich
JungerMond15: ...und wir werden prüfen, ob wir rechtliche Schritte einleiten, das sage ich Ihnen.
ReifesLuder69: ich habe verstanden
JungerMond15: Das hoffe ich auch. Ich möchte nicht, dass Sie mit meinem Sohn jemals wieder Kontakt haben.
ReifesLuder69: ich werde ihren sohn nicht mehr belästigen
JungerMond15: Haben Sie eigentlich keinen Mann, oder was?
ReifesLuder69: doch habe ich
JungerMond15: Und dem ist das wohl egal, was Sie hier treiben?!
ReifesLuder69: nein
JungerMond15: Aber Sie tun es trotzdem, scheint ja eine tolle Ehe zu sein.
ReifesLuder69: ja das ist sie.
Schluss jetzt. Logout. Und während die alleinstehende Akademikerin S. sich die kleinen Schweißperlen von ihrer Stirn tupft, gefällt ihr die Idee: Eine Familie haben, einen Mann und einen Sohn, der im Internet surft. Eine schöne Phantasie.
Michael Tiemann, 1959 in Kiel geboren, arbeitete 18 Jahre als Theaterregisseur in der freien Szene München, lebt jetzt in Berlin. 2004 entstand das Drehbuch USER - warte nicht auf bessre zeiten. Zur Zeit arbeitet Michael Tiemann an seinem Projekt "Tribsees".
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