Talentschuppen Universität

Elite- oder Massenausbildung Gesine Schwan über Humboldtsche Bildung, Marxsche Ökonomie und die Frage, warum man mit einem "Ruck" im Bildungsbereich nichts auslösen kann

Professor Gesine Schwan, Jahrgang 1943, ist Politikwissenschaftlerin und leitet seit 1999 die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, an der rund 6.000 Studenten an drei Fakultäten und dem im polnischen Slubice ansässigen Collegium Polonicum studieren.

Zuvor war Gesine Schwan Dekanin des Fachbereichs Politische Wissenschaften (Otto-Suhr-Institut) an der Freien Universität Berlin. Sie gehört der Grundwertekommission der SPD an und engagiert sich für die Einhaltung der Menschenrechte. Anfang März wurde sie von SPD und Bündnisgrünen als Bundespräsidentin vorgeschlagen.

FREITAG: Angenommen, Sie würden als Bundespräsidentin gewählt, könnten wir von Gesine Schwan eine bildungspolitische "Ruck-Rede" erwarten?
GESINE SCHWAN: Sie können keine Ruck-Rede erwarten, weil ich von der Metapher des Rucks nicht viel halte. Gerade im Bildungsbereich kann ein Ruck nicht wirklich etwas auslösen. Eine bildungspolitische Rede werden Sie erwarten können, die unterstreicht, dass Bildung, Erziehung, Forschung in einen Rahmen eingeordnet werden müssen, der über den strapazierten Begriff des Wettbewerbs hinausgeht. Sehr häufig wird Bildungspolitik reduziert auf die Sicht "wir befinden uns im Wettbewerb, wir müssen uns global behaupten", das reicht meiner Meinung nach nicht. Wir müssen - wie alle großen Bildungstheoretiker, allen voran Humboldt - Bildung vom Menschen her begründen und erklären, was sie für eine demokratische Gesellschaft bedeutet. Die Diskussion über Bildungs- und Forschungsziele findet nicht genügend statt, die würde ich gerne anstoßen.

Sie wollen also den gegenwärtig vorherrschenden, am Wettbewerb ausgerichteten Kurs bremsen?
Ich will nicht bremsen, ich will gestalten und mich nicht treiben lassen. Ich glaube an das grundlegende Selbstbestimmungsrecht des Menschen und die darin begründete Würde des Einzelnen. Bildung ist heute im Grunde nicht mehr von Ausbildung zu unterscheiden, aber sie ist kein Konsumgut, sondern eine Chance, die allen Menschen zur Verfügung gestellt werden muss. Wir benötigen durchaus auch private Zusatzfinanzierungen im Bildungssystem, da scheue ich mich gar nicht. Im Wesentlichen ist Bildung jedoch ein öffentliches Gut, das Menschen in einer immer komplizierter werdenden Welt ermöglicht, so klar, vernünftig und selbstbestimmt wie möglich zu leben. Umgekehrt muss die Gesellschaft den Reichtum der Talente wahrnehmen können. Und Bildung darf nicht einfach instrumentalisiert werden.

Sie haben den Humboldtschen Bildungsgedanken erwähnt, der Dualismus von Bildung versus Ausbildung wird viel diskutiert. Es wird immer wieder einmal behauptet, dass seit den sechziger Jahren - zumindest im Westen - mit der Öffnung der Universitäten eine Nivellierung nach unten stattgefunden hätte. Würden Sie diese Entwicklung auch so sehen?
Nein, das sehe ich ganz eindeutig nicht so. Diejenigen, die behaupten oder auch nur suggerieren, es gäbe eine Entwicklung nach unten, gehen häufig völlig ohne Nachweis davon aus, dass die Ausweitung der Bildungsjahrgänge allein schon zu einer Nivellierung führe. Die Ausweitung der Studentenzahl ging einher mit einem nur ganz geringen Anstieg der Budgets, das heißt, de facto hat sich das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden qualitativ massiv verschlechtert. Vor diesem Hintergrund ist die behauptete Qualität bemerkenswert, und es hat sich gezeigt, dass es ein gewaltiges Bildungspotenzial gibt.

Würde man das, was Sie sagen, auf das ökonomische Prinzip beziehen, müsste man, um ein möglichst gutes Lehrenden/Studierenden-Verhältnis zu erreichen, möglichst wenig Studenten zulassen. Oder man will eine bestimmte Qualität haben, dann müssten erheblich mehr Mittel investiert werden.
Ja, man braucht mehr Mittel. Ich will mich gar nicht darauf einlassen zu sagen, wir müssen aufgrund der Mittelknappheit die Zahl der Studierenden reduzieren. Bei der Einführung von Bachelor und Master schwang vielfach der Gedanke mit, dass man mit dem Bachelor das Gros abfertigen und dann die kleine Minderheit für den Master ausbilden könnte. Ich glaube aber, dass das verfügbare Bildungspotenzial das Wichtigste und Wertvollste überhaupt für unsere Zukunft ist - individuell, gesellschaftlich und politisch. Und ich glaube, dass es dringend erforderlich ist, mehr in die Bildung zu investieren. Die Vorstellung, in der Breite zu reduzieren, um nur einige Wenige qualitativ gut ausbilden und die restlichen Talente brach liegen zu lassen, halte ich für falsch.

Das heißt, Sie sind gegen Zulassungsbeschränkungen und dagegen, dass die Universitäten künftig ihre Studenten auswählen?
Das ist damit überhaupt nicht gesagt. Ein Grund, Studenten auszusuchen, liegt in der fachlichen Ausrichtung. Es ist zum Beispiel völlig unstrittig, dass in Kunst- und Musikhochschulen Aufnahmeprüfungen stattfinden. Wenn Hochschulen die Möglichkeiten einer Motivationsprüfung nutzen, dann finde ich das richtig. Aber sorgfältiges Aussuchen verlangt einen hohen Aufwand. An der Viadrina beispielsweise brauchen wir Studierende, die sich ganz bewusst für Mehrsprachigkeit entscheiden und entsprechende Anstrengungen unternehmen. Hierfür muss man die Studierenden sorgfältig auswählen. Aufnahmeprüfungen sind aber nicht dazu da, Leute abzuschrecken und die Anzahl der Studierenden zu reduzieren.

Sie haben sich an der von der SPD lancierten Debatte um Elite-Hochschulen beteiligt. Zwingen die immer knapper werdenden Mittel nicht letztlich zu einer Entscheidung zwischen Eliteförderung und Chancengleichheit?
Ich habe versucht zu zeigen, dass es einen Unterschied zwischen Elite und Spitzenleistung gibt. Der Begriff Spitzenleistung ist mit dem Gleichheitsgedanken der Demokratie besser verträglich, weil damit gemeint ist, alles an Talenten zu entwickeln, die eigenen Fähigkeiten auszureizen und auf diese Weise auch in der Gesellschaft Höchstleistungen zu erbringen. Spitzenleistung ist nicht im Sinne einer Forcierung des Wettbewerbs und des Wegdrängens anderer gedacht. Dass wir leisten sollen - für uns selbst und für die Gesellschaft -, das steht für mich überhaupt nicht in Frage. Ich sehe nicht, dass die Finanzen zu einer Entscheidung zwischen Elite- und Massenausbildung zwingen. Aus der Bildungsgeschichte wissen wir schließlich, dass wir eine breite Ausbildung brauchen, sonst haben wir am Ende auch keine Elite mehr.

Spitzenleistung wird aber mehr und mehr als marktfähiges Produkt gehandelt.
Bildung ist für mich kein handelbares Produkt. Das setzt doch voraus, dass die Bildung etwas ist, was ich einfach mechanisch produziere, etwas, das ich als Produkt absetzen kann oder das ich konsumiere. Das ist eine völlig falsche Idee. Bildung ist ein sehr anstrengender Prozess der Aktivität, der Kreativität. Ist es ein Produkt, wenn ich meine Persönlichkeit bilde? Bringe ich die auf den Markt? Ich verstehe nicht, warum man sich dieser Verkürzung beugen sollte. Natürlich gibt es in bestimmten Bereichen Ausdifferenzierungen, Erfindungen, anwendbare Produkte, die man auf dem Markt verkaufen kann. Aber das ist ein Sektor von wissenschaftlicher Forschung, das ist nicht Bildung.

Bremen ist kürzlich zur Stadt der Wissenschaft gewählt worden. Die Uni, die bis vor zehn Jahren noch den schlechten Ruf einer roten Kaderschmiede hatte, hat sich aufgerappelt und ihre Angebote den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst. Stehen die Universitäten nicht immer unter dem Druck, im Sinne von Marktgängigkeit, Innovation, Drittmittel einzuwerben etc.?
Natürlich stehen die Universitäten unter diesem Druck. Der Staat hat kein Geld, also sollen die Universitäten und Forschungsinstitute dazu beitragen, dass Geld hereinkommt. Das tun sie, indem sie etwas erfinden oder erforschen, was man als Produkt auf dem Markt absetzen kann. Dagegen ist erst einmal nichts zu sagen. Solche Prozesse bedeuten Innovation und schaffen vielleicht auch Arbeitsplätze, das ist ja in Ordnung. Doch wenn sich Bildung darin erschöpft, leisten wir keinen Beitrag zu dem Problem, dass wir uns auf längere Sicht in einer Weltgesellschaft verständigen müssen. Dass wir - wenn wir demokratisch, freiheitlich und gerecht zusammenleben wollen - unsere Persönlichkeiten ausbilden müssen. Wenn wir nur fixiert sind auf die schnelle Verwertbarkeit unserer Forschung und Wissenschaft, können wir in zehn Jahren die anstehenden Herausforderungen vielleicht gar nicht mehr bestehen.

Denken Sie, dass an einer Lernbehindertenschule beispielsweise auch Spitzeleistungen möglich sind?
Natürlich!

Wir erklären Sie sich dann, dass immer weniger Kinder in Deutschland aus sogenannten bildungsfernen Haushalten die von Ihnen so bezeichneten Spitzenleistungen erbringen?
Wir haben einen Bildungsansatz, der im Grunde nicht das Potenzial der einzelnen Menschen und Gruppen im Blick hat, das man fördern und auch ermutigen soll. Der Begriff Spitzenleistung mag irritierend klingen, aber ich wende ihn gerade gerne an, um aufmerksam zu machen, dass Spitzenleistung nicht etwas ist, was man abstrakt an irgendeinem unbewussten bildungsbürgerlichen Ideal messen kann. In der von Ihnen genannten Lernbehindertenschule ist sowohl die Leistung derer, die dort unterrichten, als auch derer, die dort lernen, potenziell eine Spitzenleistung. Deswegen müssen wir uns daran gewöhnen, dass die Vielfalt das Entscheidende ist und dass die Nivellierung, die auch mit dem Markt- und Wettbewerbsdenken verbunden ist, überwunden werden muss.

Aus dieser Blickrichtung müssten die Mittel, die derzeit freigemacht werden, nicht "Leuchttürmen" zukommen, sondern auf alle Bildungsinstitutionen verteilt werden, um ihre spezielle Spitzenleistung hervorzubringen.
Das ist nicht unbedingt die Folgerung aus dem, was ich sage. Ich sage, Bildung ist nicht etwas, was man erwerben kann, Bildung verlangt Anstrengung. Wenn man zusätzliche finanzielle Mittel verteilt, ist es legitim, sie dort zu verteilen, wo besonders große Anstrengungen gemacht werden, aber auf verschiedensten Gebieten. Sie einfach gleich zu verteilen, halte ich nicht für richtig. Das würde heißen, dass Geld automatisch Leistung freisetzt. Das ist aber nicht der Fall. Deswegen unterstütze ich den SPD-Vorschlag zu Elite-Unis beziehungsweise einzelnen herausgehobenen Fächern und Fachbereichen insofern, als dass bestimmte Leistungen an Hochschulen belohnt werden sollen, um sie zu stärken. Das darf aber nicht das gesamte Konzept der Bildungspolitik sein.

Die SPD hat Bildungsgutscheine für Arbeitssuchende eingeführt. Auf Hochschulebene werden ebenfalls Bildungsgutscheine diskutiert. Wird Bildung auf diese Weise nicht künstlich verknappt?
Es gibt verschiedene Modelle für Bildungsgutscheine, und sie sind in irgendeiner Form an Studiengebühren gebunden. Ein Grund für Studiengebühren ist die Hoffnung auf zusätzliche Mittel. Wer die Hochschule aber einigermaßen kennt, verspricht sich davon nicht viel, zumal die Gefahr besteht, dass der Staat die Mittel wieder wegnimmt. Als ich als Präsidentin für die FU kandidierte, habe ich allerdings gesagt, ich fände es interessant, wenn Studierende, die einen begrenzten Beitrag leisten, entscheiden, wohin ihr Geld fließt und dadurch deutlich machen, wofür sie zahlen wollen: für Tutoren, Bibliotheken oder was auch immer, und weil sie sich dann darum kümmern.

Die Ökonomisierung der Hochschulen ist ja in vollem Gange. Studierende werden zu einem immer effizienteren Studium gezwungen, werden jetzt häufig als Kunden bezeichnet.
Dagegen wende ich mich immer sofort!

Das neue Hochschulrahmengesetz von Baden-Württemberg setzt neue Akzente, die Hochschule wird als Unternehmen gesehen, in dem ein Aufsichtsrat fungiert ...
Ich würde meine Aufgabe darin sehen, die Weichenstellung, die sich bis in die Diktion hinein fortsetzt, zu problematisieren und zu zeigen, welche Gefahren darin stecken. Dass die Wucht des ökonomischen Wettbewerbs stark ist, ist mir völlig klar. Aber fragen Sie doch hier an der Viadrina, ob sie so wirklich durchschlagen muss. Mir geht es darum, mit einem Modell Alternativen zu zeigen

Wenn man so will, hat Marx doch mit seiner Analyse der Warenwelt, die sich in unserem Fall nun auf die Bildung ausweitet, Recht behalten. Sie haben sich früh mit Marx beschäftigt, geben Sie ihm heute noch Recht?
Seine politischen Forderungen bleiben für mich nach wie vor inakzeptabel, weil er ein Antiliberaler ist, das verträgt sich nicht mit Demokratie. Aber das heißt nicht, dass man sich nicht seine ökonomische Analyse ansehen sollte. Er hat den Selbstlauf und auch das Selbstzerstörerische der Ökonomie, wenn man sie nicht gestaltet, sehr markant beschrieben. Es kommt darauf an, dass wir insgesamt und auch für die Bildung der Politik gegenüber der Ökonomie den Vorrang geben. Die These von Marx war, das ginge gar nicht. Ich bleibe dabei, dass es geht. Aber natürlich müssen wir das wollen und als Gesellschaft und als politische Institutionen darauf hinarbeiten.

Das Gespräch führten
Ulrike Baureithel und Connie Uschtrin

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden