„Da hat es sich ja richtig gelohnt, ein Ticket zu kaufen“, ruft die Frau in der Bahn fröhlich aus, als sich der Kontrolleur erkennbar zeigt. Ein kritischer Blick auf den Fahrschein unterbricht den anfänglichen Enthusiasmus jedoch abrupt. Falsch abgestempelt sei er. „Ich hätte doch mit dem Auto fahren sollen“, murmelt sie noch, als sie mit dem Kontrolleur an der nächsten Haltestelle auf den Bahnsteig tritt.
Szenen wie diese soll es in Zukunft nicht mehr geben. Bußgelder und vor allem bezahlte Tickets sollen abgeschafft, der kostenlose Nahverkehr für alle in einigen deutschen Städte getestet werden. Dass die Idee ausgerechnet jetzt von der Bundesregierung geäußert wird, ist jedoch nicht der Erkenntnis zu verdanken, es könne sich um ein sinnvolles Modell handeln, sondern vielmehr dem Druck der EU-Kommission geschuldet. Um einer Klage zu entgehen, soll die Luftverschmutzung merkbar reduziert und die Luftqualität in Städten dadurch verbessert werden – mit dem ÖPNV zum Nulltarif. Erzwungene Maßnahme hin oder her, ist das wirklich umsetzbar?
Klar, die Idee ist nachvollziehbar. Wird Bus- und Bahnfahren kostenlos, steigen mehr Menschen vom Auto auf die Öffentlichen um, um den Geldbeuten zu schonen. Die Umwelt wird entlastet. Für die Stadt klingt das plausibel, doch was ist mit ländlichen Gebieten, in denen das Verkehrsnetz nicht dicht genug ist, um eine echte Alternative zum Auto zu bieten? Zum Arbeitsplatz in der Stadt müsste dennoch mit dem Auto gependelt werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass das gesamte Nahverkehrsnetz ausgebaut werden müsste. Was das wohl kosten mag und wer dafür aufkommen soll? Die Frage schiebt man lieber erst einmal beiseite. Immerhin würden jährlich etwa 12 Milliarden Euro wegfallen, die die Verkehrsbetriebe durch den Ticketverkauf einnehmen.
Zugegeben, ganz unbedacht kann der finanzielle Aspekt dann aber doch nicht gelassen werden. Schließlich führte er dazu, dass der Testlauf im Brandenburgischen Templin missglückte. Dort wurde die Möglichkeit des kostenfreien Fahrens so dankend angenommen, dass die Passagierzahlen auf das zehnfache stiegen, die Busse und Bahnen platzten aus allen Nähten. Auch in Seattle und im belgischen Hasselt gab es Finanzierungsprobleme, der steigenden Nachfrage konnte nicht nachgekommen werden. Soll die Umsetzung gelingen, müsste sich Deutschland schon an Estlands Hauptstadt Tallinn orientieren, wo bereits 2013 Fahrstreifen zu Busspuren umgebaut wurden. Die Anwohner sind seitdem kostenfrei mit den öffentlichen in der Stadt unterwegs, was viele auch zum Wohnen nach Tallinn gelockt hat.
In überlasteten Städten könnte der freiwerdende Raum wieder effektiver genutzt werden, wenn selbstständig auf Autos verzichtet wird. Bei Einführung eines kompletten PKW-Fahrverbots in Innenstädten würde die Autolobby und mit ihr Teile des autoaffinen Landes jedoch auf die Barrikaden gehen. Realistischer und trotzdem wirkungsvoll wäre es, zu allererst einmal die Subventionen für Diesel herunterzufahren oder Parkkosten anzuheben, um Autofahren an sich teurer zu gestalten. Das schafft Anreize, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Zudem könnte der Ausbau des Nahverkehrsnetzes dadurch finanziert werden.
Die Frage hingegen, ob durch den kostenlosen ÖPNV eine ungesunde Lebensweise gefördert wird, muss jede und jeder für sich selbst beantworten. Schließlich muss nicht alles genutzt werden, nur weil es nichts kostet. Für die Umwelt und damit die Luftqualität sind Radfahren oder Laufen immer noch am förderlichsten.
Kommentare 12
Bei aller Liebe zur konstruktiven Kritik, aber die Idee ist doch schon lange fällig. Sollten tatsächlich von Seiten der Bundesregierung Initiativen in diese Richtung zeigen, kann das doch nur Grund zum Feiern sein.Alle eventuellen Probleme, die mit der gesteigerten Nutzung des ÖPNV einhergehen sind mit Sicherheit einfacher zu lösen, als die Folgeerscheinungen des motorisierten Individualverkehrs. Erst recht, wenn man langfristig (und nachhaltig) denkt.Und selbst die Mobilität auf dem Land, sowie der regionale und und überregionale Verkehr können von einer Verschiebung in Richtung öffentlicher Organisation nur profitieren.
Die Leute, die auf dem Land jenseits der Speckgürtel von Ballungszentren leben, werden das nicht gut finden. Aus allgemeinen Steuergeldern, also auch den von ihnen gezahlten, wird dann noch mehr subventioniert, was ihnen nicht zugute kommt.
Oh, ich vergass: Diese Leute wählen ohnehin nicht mehr CDUCSUSPDGrüneFDPLinke. Das Problem ist nur, dass sie durch so etwas mehr werden.
Wenn der Staat mehr Geld in öffentlichen Verkehr stecken will, sollte er das ähnlich wie in der Schweiz als Daseinsvorsorge betreiben. Jedes Dorf sollte mit vernünftigen Anschlüssen zur Bahn per Bus erreichbar sein. Wenn man mal so ein System hat wie in der Schweiz und dann wird immer noch zu viel Auto gefahren, dann kann man wieder über kostenlosen Nahverkehr nachdenken.
In Zürich haben knapp unter und in Basel etwas über 50% aller Haushalte kein Auto, obwohl der öffentliche Nahverkehr Geld kostet. Er funktioniert nur einfach gut und alle Verkehrsunternehmen haben ein gemeinsames Ticketsystem und zueinander passende Fahrpläne.
Der angeblich zu hohe Fahrpreis ist eher selten der Grund, warum ich so selten mit dem ÖPNV fahre. Wenn ich Benzin- und Parkgebühr den 5,60 Euro gegenüberstelle, die die Hin- und Rückfahrt mit dem ÖPNV kosten, kommt das ziemlich aufs Gleiche raus.
Fahre ich in die nahe Großstadt, muss ich entweder 45 Minuten (evtl. im Regen) auf den Bus warten oder drei Mal umsteigen, wobei nicht klar ist, ob ich den Anschlußbus oder die Anschluß- U-Bahn überhaupt pünktlich erreiche. Die reine Fahrzeit ist ziemlich gleich.
Ja, bei schönem Wetter ist es auch eine Option, die 16 km zu Fuß zurückzulegen oder mit dem Fahrrad.
Billiger wird es natürlich für die Fahrt mit dem Auto, wenn mehr als 1 Person im Auto sitzt. Wenn ich was Sperriges oder Schweres transportieren muss, geht das nur mit dem Auto.
Mit den Enkeln könnte ich zwar den ÖPNV nutzen, aber das wäre mir dann doch zu teuer. Da wäre ein Taxi vermutlich billiger, was aber den Ausstoß von Emissionen nicht reduziert.
Schon heute hat unser Verkehrsverbund zu wenig Geld um das Streckenetz sowie Busse und Bahnen in ordentlichem Zustand zu halten. Wenn es den ÖPNV für umsonst gibt, wird für Instandhaltung (und z.B. den Neukauf von Elektrobussen) noch weniger Geld da sein.
Außerdem ist es linke Tasche - rechte Tasche. Da uns die Politiker den kostenlosen ÖPNV nicht aus ihrem Privateinkommen spendieren, wird er wohl von uns Steuerzahlern bezahlt werden müssen. Wenn das so ist, dann ist mir der jetzige Zustand lieber, weil ich da nur zahle, wenn ich Bus und Bahn auch wirklich benötige.
Was wohl eher helfen würde, die Menschen vom Auto auf den ÖPNV zu locken: Die Parkgebühren in den Parkhäusern drastisch verteuern und das Angebot an öffentlichen Parkplätzen drastisch reduzieren oder nur für Anwohner freigeben. Das funktioniert aber nur, wenn das alle Städte machen. Sonst wird nur die Kaufkraft einer Stadt in eine andere Stadt umgeleitet.
In einer freien kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wo jeder auf Individualismus gebürstet ist und den anderen überholen will und muss, gibt es kein Zurück vom Individualverkehr. Das geht nur in einer Diktatur und Mangelwirtschaft. Dort wurden und mußten die Beschäftigten aus Mangel und wegen zu hoher individueller Kosten für einen Obolus von 10 Ostmark einen ganzen Monat zur Arbeit und zurück gebracht.
Aber warten wir es ab, auch die jetzigen Freiheitsgrade werden geringer! Garantiert!
@Meine Meinung, vor 2 Tagen
Einschränkungen der persönlichen "Freiheit" heißen doch nicht zwangsläufig "Diktatur" und "Mangelwirtschaft" à la DDR.
Warum ist es eigentlich in allen (?) kapitalistischen Demokratien verboten, mit 280 km/h durch das Dorf zu fahren und zwar auch dann, wenn die Straße "frei" ist und der Ferrari genügend individuelle Leistung hat? Das doch auch "Diktatur" und "Freiheitsberaubung"?
"Individuelle" Freiheit im Verkehr kann doch auch bedeuten, das sowohl im Sinne der Allgemeinheit als auch aus individueller Sicht vernünftigte Verkehrsmittel zu benutzen. Das heißt, in der Stadt ein Massenverkehrsmittel wie U-Bahn, S-Bahn, Bus oder den individuellen "Drahtesel", in der Pampa das Automobil und auf Überlandstrecken den Hochgeschwindigkeitszug. Es sei denn, man gehört zu den Neoliberalen, die davon träumen, dass irgendwann einmal jeder Bürger auf der Erde seinen privaten Helikopter besitzt, um damit am "Freitag" abend vom Dach seines Penthouses in der City zu seiner privaten Villa auf dem Land zu fliegen.
Sie beantworten in Ihrem Kommentar in keiner Weise, wie Sie durch Einsicht den Wahnsinn des IndividualVerkehrs diesen reduzieren können. Wenn ich zu FeierabendZeiten an einer Fußgängerampel eine Phase warte, rasen 50 große Schlitten mit einer Person vorbei. Und Gesetze? D kriegt nicht mal bei den freien Bürgern ein Tempolimit auf BAB durch.
Diese Finanzierbarkeitsfrage ist doch nur vorgeschoben. So lange wir Geld für Förderprämien für Elektrofahrzeuge oder Abwrackprämien haben, so lange wir Geld ins Gesundheitswesen pumpen, von dem niemand weiß wo es bleibt und so lange wir uns Prestigeprojekte statt vernünftiger Infrastruktur leisten können - so lange kann mir niemand erzählen, dass es an Mitteln fehlt. Sie werden nur in die falschen Taschen geschoben.
Und: wäre der ÖPNV attraktiv, müsste man ihn gar nicht kostenlos anbieten. Wenn ich mich frage, warum ich mit dem Auto zur Arbeit fahre ist die Antwort stets: Weil ich selbst im größten Stau schneller bin. Weil es einfach an Verbindungen fehlt. Und ich arbeite in Sichtweite eines Daimlerwerks - hat dort wirklich jeder Arbeiter am Band ein Firmenfahrzeug?
>>Dort wurde die Möglichkeit des kostenfreien Fahrens so dankend angenommen, dass die Passagierzahlen auf das zehnfache stiegen, die Busse und Bahnen platzten aus allen Nähten.<<
Das Desaster war geplant: Wenn der ÖV nicht gleichzeitig an höhere Fahrgastzahlen angepasst wird bringt sich das Projekt selber zum Absturz. Es wird also „bewiesen“, dass ein kostenloser ÖV nicht funktioniert. Etwas Anderes lassen die Lobbyisten der Automobilkonzerne gar nicht zu.
Es ist doch alles schon getestet, z.B. vor Jahren in Köthen, LK ABI.
Und es kann mir immer noch niemand erklären, warum ich mit meinem Steuerbeitrag weitere Tests finanzieren und eventuell zukünftig erhöhte Lebensqualität in Ballungszentren finanzieren soll!
Wenn ich zur nächsten "Großstadt" will und muß, fährt mein Bus 2x am Tag und ich muß durch drei sich nicht grüne Verkehrsverbünde für 60 km 15€ löhnen und 4x umsteigen und brauche insgesamt über 3 Std. In der "Großstadt (250 Tsd. EW) kann ich mindestens alle 20' ein Verkehrsmittel nutzen.
Da sind noch viele, fast nicht zu bewältigende Voraussetzungen zur Schaffung vergleichbarer Lebensbedingungen zu schaffen.
Das ganze Gedöhns ist, in Anlehnung an @Gelse, eh nur ein Versuchsballon zu Vorgaukelung von Aktivitäten der lieben Politiker.
Das Prinzip ist durchschaubar: Vorhandenes Geld wird in wenigen wahnwitzigen Grossprojekten verbuddelt, so dass für den Ausbau des ÖV in der Fläche nichts mehr übrig ist. Und sollte doch etwas übrig bleiben wird es an Kriegsrüstungsfirmen verfüttert.
Um die Alternative zu sehen muss man nicht bis in die Schweiz gehen: Im Grossraum Karlsruhe reichen die Bahnen vom Stadtzentrum sehr weit in den ländlichen Raum hinein. Das System wird von Vielen gerne benützt. Aber wenn mal ein paar Leute etwas richtig gemacht haben schaut man ja lieber nicht hin.
Ach übrigens:
https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/der-halbierte-burgersteig
It is a great idea.
spy hunter