Tarnkappe

Fröhliche Wut Der Freitag hat sechs "Superdemokraticos"-Autoren gebeten, über das Selbstbewusstsein der Lateinamerikaner zu schreiben. Hier eine Antwort aus Bolivien

Dasein wir schlecht. Wir sind dreckig, hässlich, unerwünscht, barbarisch, illegal, arm, autoritär, tuberkulös, latin lovers, vormodern, cholos, kannibalisch, abergläubisch, gewalttätig, gastfreundlich, zurückgeblieben, schwarz, radikal, faul, unterwürfig, primitiv, korrupt, mestizisch, misstrauisch, hedonistisch, unpünktlich, Drogenhändler, Wilde, Blockierer, fröhlich, dickköpfig, leidenschaftlich, provinziell, Machos, Ex-Sklaven, ignorant, verrückt, haben breite Hüften, sind Piraten, übelriechend, Guerilleros, Hexer, Indios, heiß, defätistisch, in Feierlaune, undankbar, unterernährt, undurchdringlich, vertrauensselig, laut, Schwindler, verantwortungslos. So sind wir und tausend Dinge mehr.

Wir sind daran gewöhnt, eine Tarnkappe zu tragen; so wie das Chamäleon wissen wir, wie es ist, jeden Tag unsichtbar zu sein. Den Teufel nennen wir Onkel und Mutter die Erde (Gott haben wir schon lange nicht mehr lallen hören). Unsere Fehler kommen bald in Mode und unsere wenigen Tugenden werden erneut der Vergessenheit anheimfallen. Es stimmt: Sonntags werfen wir unsere Seele zum Fenster hinaus, und auf unseren Müllhalden kann man Juwelen finden. Wir verstehen eure Neugierde für unsere Nasen nicht. Wenn du versuchst, uns spüren zu lassen, dass wir Diebe oder Bettler sind, lachen wir dich aus, auch wenn uns Zähne fehlen und wir deine Brieftasche in unserer Jackentasche haben. Wir sind eine Entdeckung, aber wir haben die Anti-Baby-Pille entwickelt, für den Fall, dass wir uns übermäßig vermehren, wir haben den Fingerabdruck eingeführt, damit wir schneller gefasst werden. Wir sind niemand, Leute ohne Namen, als nicht identifizierbare Kadaver vermerkt, obwohl wir auch Borges, Parra, Vallejo heißen könnten. Wir lesen aus den Steinen und schreiben mit dem Feuer. Wir wischen euch den Arsch, aber wir werden ihn niemals küssen. Wir haben eine Sprache gerettet, neue Karten gezeichnet, einen Kontinent wieder aufgebaut, Diktatoren wiedergewählt und wir werden erst dann klein beigeben, wenn wir die Sternchen (aus Hollywood) umbenannt haben.

Unser Weltmeister-Frühstück: Papaya, Avantgarde, Pirañas, Röhrchen, Cumbia, Schnee in den Tropen, wieder aufgewärmte Mythen. Raubtiere kennen weder Grenzen noch Hierarchien. Wir waren jahrelang süchtig nach Melodramen, und danach gingen wir raus, um auf der Straße Sachen zu verbrennen. Einen Tag später wurden in den Fabriken die Maschinen ausgeschaltet, und wir feierten das im Frack, und bis heute wissen wir nicht, ob uns der Champagner oder die Musik von Verdi melancholisch gestimmt hat. Wir tanzen bis zum Umfallen, wir decken uns mit der Ungewissheit zu. Am Ende geht die Sonne immer wieder auf. Für Standpauken sind wir nicht mehr zu haben. Wir haben nicht gefordert, auf der Welt zu sein, aber wir werden sie retten, koste es, was es wolle. Wir werden ein Imperium aus diesen Ruinen errichten. Wir haben das alles schon im letzten Albtraum im Fernsehen gesehen. Wir waren einer, und jetzt sind wir Millionen: Dieses Rascheln, das du immer lauter hörst, ist das Geräusch unserer Schritte. Wir sind an der Reihe, dir einen Gefallen zu tun, und demnächst werden wir sogar in deiner Suppe auftauchen. Bürger von Latrinenamerika, vereinigt euch!

Fernando Barrientos, geboren 1977 in Tarija, lebt in La Paz, Bolivien. Er ist Soziologe und Autor und hat den Verlag El Cuervo gegründet. Außerdem betreibt er das kollektive Blog editorialelcuervo.blogspot.com.


Auf schreiben 20 lateinamerikanische und deutsche Autorinnen und Autoren unter 40 Jahren von Juni bis Oktober 2010 über ihren Alltag. Sie erzählen in Blog-Einträgen von persönlichen Erfahrungen und Realitäten, darüber wie sie in ihren Ländern Geschichte, Sexualität, politische Teilhabe und Globalisierung wahrnehmen. Alle Texte werden ins Deutsche übersetzt. Eine Auswahl finden Sie auf freitag.de/superdemokraticos ebenso wie alle Blogs aus der Freitag-Community zum Thema Lateinamerika. Wer selbst dort erscheinen will, versieht seinen Blogeintrag auf freitag.de mit dem Tag superdemokraticos.

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Übersetzung: Anne Becker

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