Täter

Pionier Zum Tod des großen Holocaust-Forschers Raul Hilberg (1926-2007)

Einer seiner akademischen Lehrer, der Emigrant Hans Rosenberg, war ein guter Kenner der preußischen Verwaltung und vermittelte dem jungen Studenten Raul Hilberg eine zentrale Einsicht: "Das Beamtentum macht alles, und zwar hinter dem Fenster". Wie kein anderer Historiker widmete sich Raul Hilberg zeitlebens der Erforschung des bürokratischen Charakters und der aktenmäßig "sauberen" und korrekten Durchführung der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Der Transport der Juden quer durch Europa in die Arbeits- und Vernichtungslager geschah nach Einsatz- und Fahrplänen, an denen Abertausende von Beamten in der staatlichen Verwaltung, bei der Polizei, in der Privatwirtschaft, bei der Armee und bei der Reichsbahn beteiligt waren. Das Beamtentum machte buchstäblich alles, und "hinter den Fenstern" erfanden sie an ihren Schreibtischen obendrein eine eigene Sprache, die den Plan zum Massenmord mit Vokabeln wie "Sondertransport" und "Sonderbehandlung" kaschierte und den Tätern das notorisch gute Gewissen verschaffte, einen ganz normalen Aktenvorgang vorschriftsmäßig abzuwickeln.

Der zweite akademische Lehrer Hilbergs war der nach New York emigrierte deutsche Politikwissenschaftler Franz Neumann, der bereits 1942 die erste wissenschaftliche Analyse unter dem Titel Behemoth herausbrachte, in der er Struktur und Praxis des Nationalsozialismus untersuchte und sich dabei als Jurist, der er auch war, auf die Täter konzentrierte.

Zu Recht ist Hilbergs Buch Die Vernichtung der europäischen Juden heute ein Klassiker. Aber wie es dazu wurde, wirft ein eher beschämendes Bild auf viele direkt Beteiligte. Hilberg begann seine Arbeit 1948 und promovierte 1955 mit einem Viertel der später fast tausend Seiten starken Buchfassung. Er erhielt dafür den Preis für die beste Dissertation des Jahres an der Columbia University in New York. Trotzdem dauerte es noch volle sechs Jahre, bis das ganze Manuskript nach einer abenteuerliche Odyssee durch amerikanische Verlage als Buch herauskam. Die Fachleute lasen es nach 1961 zwar auch in Europa, aber es blieb ein Geheimtipp.

Bereits 1963 kaufte die deutsche Verlagsgruppe Droemer/Knaur die Buchrechte, lehnte aber eine Veröffentlichung 1965 definitiv ab. Mehrere andere deutsche Verlage zeigten ebenfalls kein Interesse. Erst 1982 erschien das Buch in der vorzüglichen Übersetzung von Christian Seeger im kleinen linken Verlag Olle, der sich mit dem Riesenprojekt finanziell prompt überhob und das prächtig ausgestattete, 840 Seiten umfassende Buch mangels Vertriebserfahrungen verramschen musste. 1990 setzte der Lektor Walter H. Pehle im Frankfurter S. Fischer-Verlag gegen allerlei Widerstände im eigenen Haus durch, dass das Buch in einer preiswerten, erweiterten und überarbeiteten Taschenbuchausgabe erscheinen konnte. Sie umfasst 1350 Seiten, in denen sich vierzig Jahre Forschungsarbeit niederschlagen.

Raul Hilberg wurde am 2. Juni 1926 in Wien geboren. 1939 flüchteten seine Eltern über Paris und Kuba in die USA. 1944 kam Hilberg als Soldat nach Europa und war unter anderem als Mitarbeiter des US-Justizministeriums bei den Nürnberger Prozessen dabei. Nach dem Abschluss seines Studiums der Geschichte und Politikwissenschaft lehrte er von 1956 bis 1991 an der University of Vermont in Burlington Politikwissenschaft. Seine historische Forschungsarbeit leistete er im wesentlichen neben seiner akademischen Lehrtätigkeit. Mit einigem Sarkasmus, aber ohne Bitterkeit oder Neid, blickt Hilberg heute auf die Holocaust-Forschung zurück. Zu seiner Zeit war das ein Außenseiterthema, das nur wenige Spezialisten interessierte. "Heute gibt es hunderte von Holocaust-Kursen und Dutzende von Lehrstühlen". Und Bücher, die sich - wissenschaftlich gesehen - auf dem Stand von 1946 befinden wie Goldhagens Willige Vollstrecker werden über Nacht weltweit zu Bestsellern.

1992 porträtierte Hilberg in seinem Buch Täter, Opfer, Zuschauer vor allem die kleinen Täter, die man verharmlosend Mitläufer nennt. Hilberg zeigt dagegen an Einzelfällen, dass der Völkermord ohne das Engagement und die Zuverlässigkeit dieser subalternen Beamten, Eisenbahner, Polizisten, Soldaten und Juristen nicht gelungen wäre. 1994 hat Raul Hilberg unter dem Titel Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers" seine Autobiographie vorgelegt. Am Samstag, den 4.August, ist Hilberg in Burlington im US-Bundesstaat Vermont gestorben.


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