A
Attentat Am Morgen des 30. November 1989, gegen halb neun, saß ich im Taunus in der Schule, 13. Klasse, und Alfred Herrhausen, der Chef der Deutschen Bank, saß in seinem Dienstwagen. Er war auf dem Weg von seinem Haus in ➝ Bad Homburg in sein Frankfurter Büro. Als sein Chauffeur die Limousine den Seedammweg hinabgleiten ließ, explodierte, 500 Meter von der Schule entfernt, eine Bombe, ausgelöst von einer Lichtschranke, die am Straßenrand installiert war.
Der Unterricht wurde unterbrochen, tagelang überall Polizei, und mein Schulweg war dann sehr oft im TV zu sehen – mit dem zerfetzten Machtmercedes mitten darauf. Jenes Vorkommnis hat mich mehr geprägt als der Mauerfall drei Wochen zuvor. Am Tag, als die RAF Alfred Herrhausen tötete, hat die alte BRD sich noch einmal dröhnend aufgebäumt, mit ihren gut bekannten Antipoden, quasi direkt vor meinen Augen. Meine Jugend ging dann gleichzeitig mit den beiden alten Republiken zu Ende. Katja Kullmann
B
Bad Homburg Es muss in den frühen 80er Jahren gewesen sein, als mein Lateinkurs zur Belohnung für das fehlerfreie Deklinieren des Worts „Taunus“, deutsch etwa „stinkreiches Gebirge“, einen Ausflug nach Bad Homburg machen durfte. Die Stadt mit ihrem heutigen Kaufkraftindex von 156 (➝ Zentrum) beeindruckte uns sehr: Wir bestaunten die mit Gold gepflasterten Gehwege, die livrierten Pagen, die in den Parks mit mundgeschmiedeten Manufactum-Schäufelchen Hundekot aufsammelten und die technisch aufwendigen Anlagen, die zur Verbesserung des wohltuenden Kurortklimas Schaumwein versprühten (Stadtmotto: „Champagnerluft und Tradition“). Wir küssten glücklich die Gewandsäume der Einheimischen, und nicht wenige beschlossen an diesem Tag, später einmal BWL zu studieren – oder wenigstens reich zu heiraten. Uwe Buckesfeld
H
Heilquellen Ein großer Strom entspringt nicht im Taunus, Rhein und Main fließen um das Mittelgebirge nur herum. Heilquellen hingegen sprudeln hier einige. Sie waren es auch, die den Taunus berühmt machten. Sogar seinen Namen erhielt er, der bis ins 19. Jahrhundert nur „Höhe“ genannt wurde, indirekt durch die Wasserlöcher. Mit „Die Heilquellen am Taunus“ entwarf Johann Isaak von Gerning 1813 ein „didaktisches Gedicht“ mit Karte, das den Namen popularisierte. Dabei bezog er sich auf ein von Tacitus erwähntes „castellum in monte tauno“, womit der römische Historiker vermutlich eine Burg in Friedberg meinte – die heute jedoch in der ➝ Wetterau liegt.
Die Heilquellen bilden immer noch einen wichtigen Wirtschaftsfaktor, ziehen Touristen an und werden als in Flaschen gefülltes Mineralwasser verschickt. Neben bekannten Quellen wie jene in den Kurbädern Bad Soden und Bad Homburg kann man auch im Stahlbrunnen baden und sich am Seelborn erquicken. In die Weltgeschichte ging der Quellort Bad Ems ein: Die Emser Depesche wurde zum Anlass für den deutsch-französischen Krieg 1870/71. Tobias Prüwer
I
Intellektuelle „In einer terrassenförmig angelegten Bungalowsiedlung am südlichen Abhang eines Mittelgebirges, gerade über dem Dunst einer großen Stadt“ lebte in den 70ern Peter Handke. Der in Die linkshändige Frau beschriebene „Rote Hang“ steht gerade in der Diskussion, denkmalgeschützt zu werden. Dank der Nähe zu Frankfurt ist der Vordertaunus sonst für teure Villen bekannt. Die Front von Joachim Fests einstigem Domizil fällt durch die Abwesenheit von Fenstern auf. Dort, wo der Publizist (➝ Jörg Fauser) sich gern vor Bücherwänden fotografieren ließ, starb er 2006 auch. Weniger bekannt ist, dass Max Horkheimer in Kronberg lebte. Elf Jahre verbrachte er dort unter einem roten Walmdach. Nina Rathke
J
Jörg Fauser Das Hessische zeichnet sich sprachmelodisch durch aufreizend weiche „S“- und „Sch“-Laute aus. Regional gibt es dabei große Unterschiede. Wie das Taunus-Hessisch klingt, kann man hören, wenn man dem in Bad Schwalbach geborenen Schriftsteller (➝ Intellektuelle) Jörg Fauser (1944 – 1987) lauscht. Bei Youtube gibt es einen „Fauser-Track“, in dem er sein Gedicht Trotzki, Goethe und das Glück vorträgt. Mit dem Schreiben begann Fauser im Lokalteil der örtlichen Zeitung, dann zog er nach London, später nach Istanbul, wo sein Junkie-Roman Rohstoff spielt – das Schlüsselwerk des „hessischen Subkultur-Cowboys“, wie ihn ein Kritiker einmal nannte. Katja Kullmann
K
Kreuz An einem Herbstmorgen 1937 radelt Franz Marnet von Schmiedtheim im Vordertaunus zur Arbeit. Es ist der erste Morgen, nachdem sieben Häftlinge aus dem KZ Westhofen ausgebrochen sind. Marnet ist eine der Protagonisten in Anna Seghers’ Roman Das siebte Kreuz, in dem sie anhand der Flucht von Georg Heisler die Machtmechanismen in einer Diktatur und den Widerstand dagegen analysiert.
„Das siebte Kreuz“ ist aber auch reich an großen Landschaftsbeschreibungen – nicht zuletzt jener des Taunus. Und Marnets Weg durch die Hügel, entlang derer die Römer den ➝ Limes zogen, ist ein Paradebeispiel dafür. Marnet blickt „über das freie, sacht abfallende Land auf den Nebel“ hinab. In diesen „weiten, ausgeschwungenen Abhängen mit ihren Feldern und Obstbäumen und tiefer unten mit Reben“, mit dem „Fabrikrauch, den man bis hier herauf riecht“, liegt, bei aller Angst und allem Schrecken der Flucht, etwas Tröstliches Benjamin Knödler
L
Limes Limes-Museen gibt es einige in Deutschland. Das überrascht nicht, denn immerhin zog sich der Obergermanisch-Raetische Limes, so sein voller Name, über mehr als 500 Kilometer durch Wald und Flur. Auch der Taunus hat ein paar Palisadenmeter und sogar ein Kastell (➝ Heilquellen) abbekommen. Das wurde um 1900 auf Weisung Kaiser Wilhelms II. als „Saalburg“ wieder aufgebaut. Später kamen weitere Gebäude hinzu. Heute kann dort ein archäologischer Park diesseits und jenseits des Limes besichtigt werden.
In Zeiten, in denen viele von neuen Mauern und Abschottungen träumen, kann das nicht schaden. Denn der Limes prägte zwar nachhaltig die Vorstellung einer dichten Trennlinie, tatsächlich war er aber eben keine hermetisch abgeriegelte Grenze. Er entstand aus ursprünglich angelegten Schneisen, die mittels Holzpalisaden befestigt wurden. Der Limes diente dabei vor allem als juristische und ökonomische Demarkationslinie, die den römischen Machtbereich sichtbar machte. Die Limesgrenze war eine Kontaktzone, die Handel und Austausch diente und nicht abschottete. Tobias Prüwer
S
Studio Braun Dass im geheimnisvollen Taunus alles möglich ist (➝ Südkorea), zeigt ein pointenloser Witz aus dem Jahr 2002. Damals erfand das Hamburger Kollektiv Studio Braun, bestehend aus Heinz Strunk, Rocko Schamoni und Jacques Palminger, mit der sogenannten Telefonarbeit – später oft fehlinterpretiert als bloße Telefonscherze – eine neue, bedeutende Form deutschen Humors.
In einer der Episoden ihres Albums Fear of a Gag Planet ruft Strunk beim Hamburger Abendblatt an, um eine Anzeige für ein Selbsterfahrungsseminar zu schalten. Er diktiert: „Stuhlverhalten im Taunus: Ganzheitliche Körperarbeit nach Schamane Heinz Strunk. Wir lernen, unseren Stuhl zu halten und zu bewahren. Seminar vom 16. bis 20. Februar.“ Die Dame wiederholt noch einmal höflich und wundert sich nicht. Im Taunus ist alles möglich. Timon Karl Kaleyta
Südkorea Seit kurzem wissen auch viele Südkoreaner, dass sich im Hochtaunus eigentümliche Dinge abspielen (➝ Studio Braun). Das, was die Korea Times „Choi Soon-sil Gate“ nennt, führt nämlich direkt in die 9.000-Seelen-Gemeinde Schmitten. Genauer: ins verlassene Widec Taunus Hotel. Das soll Choi Soon-sil, eine enge wie einflussreiche Vertraute von Präsidentin Park Geun-hye, als eine Art Briefkastenfirma benutzt haben, um unter dem Deckmantel gemeinnütziger Sportstiftungen Gelder zu veruntreuen. Von denen, lautet der Vorwurf, habe auch die Präsidentin profitiert – die das jedoch zurückweist. Schmittens Bürgermeister unterdessen begegnete den angerückten Fernsehteams (➝ Attentat) aus Asien gelassen. Vielleicht, sagte er, locke das ja Touristen an. Nils Markwardt
T
Terra incognita Der Taunus ist eines der ältesten Gebirge Deutschlands und dank zahlreicher ➝ Heilquellen ein „beliebtes Ausflugsziel der Rhein-Main-Region“. So steht’s zumindest auf Wikipedia. Für alle, die nördlich von Hagen wohnen, ist der Taunus ein weißer Fleck. Das Einzige, was Ruhrpottler über „dieses Taunus“ wissen, ist, dass es zwischen A3 und A45 liegt und aus Angst vor Gnomen, Waldelfen und Hobbits weitläufig zu umfahren ist. Statt lebensbejahendem Waschbeton (Bochum) und liebevoll gefliesten Bahnstationen (Dortmund) gibt es im Taunus nur Wald, Berge und noch mehr Wald. Und diese Seltersquelle. Oder wie man hier sagt: „Wasser? Da pissen doch die Fische rein.“ Simon Schaffhöfer
W
Wetterau Was Peter Kurzeck sein Staufenberg war, ist Andreas Maier die Wetterau am östlichen Rand des Taunus. Hessische Provinz. Bundesrepublik. Heimatverortung. „Ich muss die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist“, schrieb Kurzeck in Vorabend, dem fünften Band seiner unvollendeten Chronik Das letzte Jahrhundert. Maiers auf elf Bände angelegter Zyklus heißt Ortsumgehung. Er erinnert sich, wie alles einmal war, unermüdlich wie Kurzeck, zart melancholisch (➝ Kreuz) wie Marcel Proust, ruppig melancholisch wie Thomas Bernhard.
Maier ist Jahrgang 1967. Kurzeck war Jahrgang 1943. Als in Friedberg das Wiener Café zumachte und als schnöde Eisdiele wiederbelebt wurde, erzählt Maier, traf er sich dort einmal mit Kurzeck. Er wollte sofort gehen, Kurzeck sei ohne Umstände mitgekommen. Sie gingen in die alte Gastwirtschaft „Dunkel“, wo Kurzeck, schreibt Maier, ein großes Schnitzel verspeiste. Vielleicht kriegt er einmal den Georg-Büchner-Preis, den Peter Kurzeck verdient hätte. Katharina Schmitz
Z
Zentrum „Hallo, welcome, bienvenue – das MTZ erwartet Sie.“ So schallte es in meiner Kindheit in den 80er Jahren aus den Radiosendern Hessens. Hinter dieser freundlichen Einladung steckte das Main-Taunus-Zentrum, ein gigantischer Einkaufstempel vor den Toren Frankfurts in der kleinen Taunusgemeinde Sulzbach, direkt an der A66. 1964 eröffnet, war das Main-Taunus-Zentrum die erste Shoppingmall Deutschlands.
Es rief seine Kunden mit dem Versprechen, die weite Welt auf einer grünen Wiese (➝ Terra incognita) im Taunus zu finden. Der Trend schien lange ungebrochen. Mittlerweile gibt es 476 Shopping-Center in Deutschland. Auch das MTZ steht immer noch auf seiner Sulzbacher Wiese, vor zwei Jahren feierte es seinen 50. Geburtstag. Ob die weite Welt des Online-Shopping ihnen allen eine Chance lässt, wird sich zeigen. Nina Mayrhofer
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