Tausendmal telefoniert

Ukraine Der Soziologe Wolodymyr Ischtschenko ist überzeugt: Nationalismus und rivalisierende Imperialismen haben sein Land straucheln lassen
Ausgabe 47/2017

Rosa getöntes Abendlicht umgibt den Ausgang der Metrostation im Osten von Kiew. Doch verliert es immer mehr an Kraft, so dass die vielen Gestalten oben im Freien kaum voneinander zu unterscheiden sind. Ein Bettler schüttelt ein paar Münzen in einem Pappbecher, Straßenmusiker spielen den Soundtrack des Abends, und ein Kioskbesitzer reicht dünnen Kaffee durch die Luke seines Ladens, als ein ausgedienter Kleinbus vorfährt, um Passagiere aufzunehmen. Der Platz vor dem Bahnhof wirkt wie ein Mikrokosmos der ukrainischen Gesellschaft und der für sie typischen Stimmungen – fiebrig, rastlos, depressiv, chaotisch, verwirrt. Auch Wolodymyr Ischtschenko wartet an der Bushaltestelle, später, während unseres Gesprächs, wird er sagen, ein Soziologe wie er müsse stets versuchen, die Menschen zu beobachten, um die Motive ihres Handelns zu verstehen. Bezogen auf die politische Sphäre heiße das für ihn, die Kräfte zu beschreiben, zwischen denen um die Ukraine gerungen werde, seit es im Winter 2013/14 zu den Protesten auf dem Kiewer Maidan kam.

Enormer Preisschub

Die Folgen dieses Aufruhrs, die erzwungene Flucht des Präsidenten Janukowitsch, der Separatismus und der Krieg im Osten lassen das Land nicht nur an der Abbruchkante zum wirtschaftlichen Ruin balancieren. Sie schmälern zugleich die Autorität der Zentralregierung und geben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) freie Hand für Sparmaßnahmen, die fast allen Bevölkerungsschichten zusetzen. Die Ukraine habe zu den ärmsten und korruptesten Nationen Europas gehört, als sie durch den gewaltsamen Umbruch vom Februar 2014 in eine erbitterte geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen geriet, meint Ischtschenko und nimmt einen Schluck Tee im Café auf dem Campus seines Instituts für Soziologie an der Polytechnischen Universität. Dort schrieb er einen analytischen Text nach dem anderen, als der Maidan-Aufstand Anfang 2014 seinen Siedepunkt erreichte. Diese Essays waren von Besorgnis und Trauer durchdrungen. „Die Protestbewegung hatte viele progressive Züge, aber dann erwiesen sich die national restaurativen Kräfte als übermächtig, woran die Amplitude der politischen Entwicklung nach dem Maidan keinen Zweifel lässt.“

Es habe zwar eine Umwälzung, doch keine Revolution gegeben, einen Wechsel der Elite, keinen Sturz der Oligarchie, so dass eine Regierung die Macht übernahm, die sich als neoliberales, nationalistisches Regime erwiesen habe, das stark von seinen Gönnern im Westen abhängig sei, urteilt Ischtschenko. „Die Regierung Poroschenko trifft keine wichtige Entscheidung ohne Rücksprache mit hochrangigen US-Beamten wie der Botschafterin Marie Yovanovitch oder dem ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden. Der sagt selbst, dass er schon gut tausend Stunden am Telefon mit Poroschenko verbracht habe. Und das nur in einem Jahr.“

Seit 2014 sind die Ukrainer in einem ungeahnten Tempo verarmt. Die eigene Währung (Hrywnja) verfügt heute nur noch über ein Drittel der Kaufkraft, verglichen mit Ende 2013. Die Preise für Nahrungsmittel sind deutlich gestiegen, während die Löhne zu den niedrigsten in Europa zählen. Ursprünglich prognostizierte die Zentralbank für das laufende Jahr eine Inflationsrate von acht Prozent und korrigierte dies inzwischen auf 9,1 Prozent – ein Mittelwert, der allein vom Preisschub bei Lebensmitteln, die sich im Jahresvergleich um 16,3 Prozent verteuert haben, deutlich übertroffen wird. Die Wohnkosten erhöhten sich laut Statistikamt in Kiew um 27,8 Prozent im Vergleich zu Ende 2016. Darüber hinaus hat die Regierung den Preis für Strom (plus 63,7 Prozent) und Gas (plus 74,8 Prozent) schmerzlich erhöht. Die Ukrainer sind gezwungen, viel mehr für ihre Grundbedürfnisse aufzubringen als vor dem Maidan.

„Ein großer Teil der Verantwortung für die harte Wirtschaftspolitik liegt beim IWF, der für seine Milliardenkredite Spardisziplin und eine Anpassung der Energiepreise an das Marktniveau verlangt“, sagt Ischtschenko. „Weiterhin wandert viel Kapital ins Ausland. Wird dieser Trend nicht umgekehrt, muss der ukrainische Staat immer wieder von Neuem Kredite aufnehmen.“ In den vergangenen Jahren sei oft die Rede von Reformen gewesen. Westliche Politiker kritisierten die Regierung dafür, Reformen nicht schnell genug voranzutreiben, doch sei das Wort längst zur leeren Hülse verkommen. „Es gibt eben sehr unterschiedliche Lesarten davon, was Reformen bedeuten. Der Durchschnittsukrainer möchte einen besseren Lebensstandard, mehr Lohn, einen sicheren Arbeitsplatz. Reden die Regierung und westliche Politiker über Reformen, meinen sie Maßnahmen, die ausländisches Kapital anziehen.“

Linke sind immer in Gefahr

Ischtschenko nimmt aufmerksam zur Kenntnis, wie sich derzeit ausländische NGOs in der Ukraine engagieren – oft in Zusammenarbeit mit der International Renaissance Foundation und dem Geschäftsmann George Soros. „Die NGOs zieht es deshalb hierher, weil sie die Korruption drosseln wollen. Für die meisten Ukrainer ist diese Geißel der entscheidende Grund für das soziale Gefälle. Und sie wissen, diese Hydra verschont die Reichen. Während ein Oligarch Dollar-Milliardär sein kann, verdient ein Dozent an der Universität monatlich umgerechnet 325 Euro.“

Allerdings geht es den derzeit in der Ukraine agierenden NGOs beim Einsatz gegen Korruption mehr um das Investitionsklima. Sie sind weniger auf sozialen Ausgleich bedacht als an Hinweisen und Regeln für ausländische Unternehmen interessiert. Ischtschenko meint, dass so wenig Kapital ins Land fließe, habe in der Tat mit der Angst externer Wettbewerber zu tun, von Oligarchen ausgebootet zu werden, die ihre guten Beziehungen zu den Machthabern in Kiew spielen lassen. Transparenz und Korruptionsabwehr seien daher wichtig, um multinationale Unternehmen in die Ukraine zu lotsen. „Aber ob dies dazu beiträgt, dass wir mehr soziale Gerechtigkeit haben, ist eine ganz andere Frage.“

Im Gegensatz zu Teilen der westeuropäischen Linken und Experten auf dem Gebiet Postsowjetismus wie dem britischen Politologen Richard Sakwa und dem US-Amerikaner Stephen F. Cohen scheut Ischtschenko keine Auseinandersetzung mit Russland, wenn er den geopolitischen Konflikt um die Ukraine analysiert. „Wladimir Putin verfolgt keine progressive Politik. In meinen Augen ist er ein neoliberaler Konservativer. Er kämpft für nichts Progressives in der Ostukraine, ebenso wenig in Syrien. Sicher ist Russland schwächer als die NATO, hat ein kleineres Militärbudget und stellt im globalen Ranking eine geringere Gefahr dar, doch will es als Gleicher unter Gleichen mit dem Westen verkehren. Dass die Linke diese imperialistische Politik gutheißt, ergibt keinen Sinn. Wer sich für progressiv hält, sollte besser soziale Bewegungen und Gewerkschaften in Russland kontaktieren und ihnen helfen. Putin und seine Regierung müssten als Alliierte für die Linke in Westeuropa ein Tabu sein.“

Und wie verhält sich die Linke in der Ukraine selbst? Ischtschenko beschreibt in seiner Antwort eine aufgeheizte Atmosphäre der Verachtung, die jeden stigmatisiert, der nur geringster Sympathien für Russland verdächtig scheint. Die Kommunistische Partei (KPU), einst mit einer starken Fraktion im Parlament, ist durch ein Poroschenko-Dekret von 2015 ebenso verboten wie das Zeigen kommunistischer Symbole. „Ich sympathisiere nicht mit der KPU, sie ist zu konservativ und hielt immer Tuchfühlung zu den Oligarchen“, sagt Ischtschenko. „Aber ich übersehe nicht, dass es die Post-Maidan-Regierung für die Linke beinahe unmöglich gemacht hat, am politischen Leben teilzunehmen. Selbst Formationen, bei denen es sich um proeuropäische Sozialdemokraten handelt, bewegen sich heute am Rande der Legalität. Wenn die Regierung jemanden wie mich verhaften wollte, könnte sie das ohne weiteres tun“, meint Volodymyr Ischtschenko, bevor er aufsteht, seine Jacke schließt und das bescheidene Kaffeehaus verlässt.

Auf der Straße schlägt einem die kalte Abendluft ins Gesicht. Grauer Herbstschnee vermischt sich mit zerfallendem Laub auf dem Trottoir. Ischtschenko verschwindet in der Menge, die ihn so gleichgültig aufnimmt wie das bleierne Licht eines verdämmernden Tages.

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