Rosa getöntes Abendlicht umgibt den Ausgang der Metrostation im Osten von Kiew. Doch verliert es immer mehr an Kraft, so dass die vielen Gestalten oben im Freien kaum voneinander zu unterscheiden sind. Ein Bettler schüttelt ein paar Münzen in einem Pappbecher, Straßenmusiker spielen den Soundtrack des Abends, und ein Kioskbesitzer reicht dünnen Kaffee durch die Luke seines Ladens, als ein ausgedienter Kleinbus vorfährt, um Passagiere aufzunehmen. Der Platz vor dem Bahnhof wirkt wie ein Mikrokosmos der ukrainischen Gesellschaft und der für sie typischen Stimmungen – fiebrig, rastlos, depressiv, chaotisch, verwirrt. Auch Wolodymyr Ischtschenko wartet an der Bushaltestelle, später, während unseres Gesprächs, wird er sagen, ein Soziologe wie er müsse stets versuchen, die Menschen zu beobachten, um die Motive ihres Handelns zu verstehen. Bezogen auf die politische Sphäre heiße das für ihn, die Kräfte zu beschreiben, zwischen denen um die Ukraine gerungen werde, seit es im Winter 2013/14 zu den Protesten auf dem Kiewer Maidan kam.
Enormer Preisschub
Die Folgen dieses Aufruhrs, die erzwungene Flucht des Präsidenten Janukowitsch, der Separatismus und der Krieg im Osten lassen das Land nicht nur an der Abbruchkante zum wirtschaftlichen Ruin balancieren. Sie schmälern zugleich die Autorität der Zentralregierung und geben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) freie Hand für Sparmaßnahmen, die fast allen Bevölkerungsschichten zusetzen. Die Ukraine habe zu den ärmsten und korruptesten Nationen Europas gehört, als sie durch den gewaltsamen Umbruch vom Februar 2014 in eine erbitterte geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen geriet, meint Ischtschenko und nimmt einen Schluck Tee im Café auf dem Campus seines Instituts für Soziologie an der Polytechnischen Universität. Dort schrieb er einen analytischen Text nach dem anderen, als der Maidan-Aufstand Anfang 2014 seinen Siedepunkt erreichte. Diese Essays waren von Besorgnis und Trauer durchdrungen. „Die Protestbewegung hatte viele progressive Züge, aber dann erwiesen sich die national restaurativen Kräfte als übermächtig, woran die Amplitude der politischen Entwicklung nach dem Maidan keinen Zweifel lässt.“
Es habe zwar eine Umwälzung, doch keine Revolution gegeben, einen Wechsel der Elite, keinen Sturz der Oligarchie, so dass eine Regierung die Macht übernahm, die sich als neoliberales, nationalistisches Regime erwiesen habe, das stark von seinen Gönnern im Westen abhängig sei, urteilt Ischtschenko. „Die Regierung Poroschenko trifft keine wichtige Entscheidung ohne Rücksprache mit hochrangigen US-Beamten wie der Botschafterin Marie Yovanovitch oder dem ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden. Der sagt selbst, dass er schon gut tausend Stunden am Telefon mit Poroschenko verbracht habe. Und das nur in einem Jahr.“
Seit 2014 sind die Ukrainer in einem ungeahnten Tempo verarmt. Die eigene Währung (Hrywnja) verfügt heute nur noch über ein Drittel der Kaufkraft, verglichen mit Ende 2013. Die Preise für Nahrungsmittel sind deutlich gestiegen, während die Löhne zu den niedrigsten in Europa zählen. Ursprünglich prognostizierte die Zentralbank für das laufende Jahr eine Inflationsrate von acht Prozent und korrigierte dies inzwischen auf 9,1 Prozent – ein Mittelwert, der allein vom Preisschub bei Lebensmitteln, die sich im Jahresvergleich um 16,3 Prozent verteuert haben, deutlich übertroffen wird. Die Wohnkosten erhöhten sich laut Statistikamt in Kiew um 27,8 Prozent im Vergleich zu Ende 2016. Darüber hinaus hat die Regierung den Preis für Strom (plus 63,7 Prozent) und Gas (plus 74,8 Prozent) schmerzlich erhöht. Die Ukrainer sind gezwungen, viel mehr für ihre Grundbedürfnisse aufzubringen als vor dem Maidan.
„Ein großer Teil der Verantwortung für die harte Wirtschaftspolitik liegt beim IWF, der für seine Milliardenkredite Spardisziplin und eine Anpassung der Energiepreise an das Marktniveau verlangt“, sagt Ischtschenko. „Weiterhin wandert viel Kapital ins Ausland. Wird dieser Trend nicht umgekehrt, muss der ukrainische Staat immer wieder von Neuem Kredite aufnehmen.“ In den vergangenen Jahren sei oft die Rede von Reformen gewesen. Westliche Politiker kritisierten die Regierung dafür, Reformen nicht schnell genug voranzutreiben, doch sei das Wort längst zur leeren Hülse verkommen. „Es gibt eben sehr unterschiedliche Lesarten davon, was Reformen bedeuten. Der Durchschnittsukrainer möchte einen besseren Lebensstandard, mehr Lohn, einen sicheren Arbeitsplatz. Reden die Regierung und westliche Politiker über Reformen, meinen sie Maßnahmen, die ausländisches Kapital anziehen.“
Linke sind immer in Gefahr
Ischtschenko nimmt aufmerksam zur Kenntnis, wie sich derzeit ausländische NGOs in der Ukraine engagieren – oft in Zusammenarbeit mit der International Renaissance Foundation und dem Geschäftsmann George Soros. „Die NGOs zieht es deshalb hierher, weil sie die Korruption drosseln wollen. Für die meisten Ukrainer ist diese Geißel der entscheidende Grund für das soziale Gefälle. Und sie wissen, diese Hydra verschont die Reichen. Während ein Oligarch Dollar-Milliardär sein kann, verdient ein Dozent an der Universität monatlich umgerechnet 325 Euro.“
Allerdings geht es den derzeit in der Ukraine agierenden NGOs beim Einsatz gegen Korruption mehr um das Investitionsklima. Sie sind weniger auf sozialen Ausgleich bedacht als an Hinweisen und Regeln für ausländische Unternehmen interessiert. Ischtschenko meint, dass so wenig Kapital ins Land fließe, habe in der Tat mit der Angst externer Wettbewerber zu tun, von Oligarchen ausgebootet zu werden, die ihre guten Beziehungen zu den Machthabern in Kiew spielen lassen. Transparenz und Korruptionsabwehr seien daher wichtig, um multinationale Unternehmen in die Ukraine zu lotsen. „Aber ob dies dazu beiträgt, dass wir mehr soziale Gerechtigkeit haben, ist eine ganz andere Frage.“
Im Gegensatz zu Teilen der westeuropäischen Linken und Experten auf dem Gebiet Postsowjetismus wie dem britischen Politologen Richard Sakwa und dem US-Amerikaner Stephen F. Cohen scheut Ischtschenko keine Auseinandersetzung mit Russland, wenn er den geopolitischen Konflikt um die Ukraine analysiert. „Wladimir Putin verfolgt keine progressive Politik. In meinen Augen ist er ein neoliberaler Konservativer. Er kämpft für nichts Progressives in der Ostukraine, ebenso wenig in Syrien. Sicher ist Russland schwächer als die NATO, hat ein kleineres Militärbudget und stellt im globalen Ranking eine geringere Gefahr dar, doch will es als Gleicher unter Gleichen mit dem Westen verkehren. Dass die Linke diese imperialistische Politik gutheißt, ergibt keinen Sinn. Wer sich für progressiv hält, sollte besser soziale Bewegungen und Gewerkschaften in Russland kontaktieren und ihnen helfen. Putin und seine Regierung müssten als Alliierte für die Linke in Westeuropa ein Tabu sein.“
Und wie verhält sich die Linke in der Ukraine selbst? Ischtschenko beschreibt in seiner Antwort eine aufgeheizte Atmosphäre der Verachtung, die jeden stigmatisiert, der nur geringster Sympathien für Russland verdächtig scheint. Die Kommunistische Partei (KPU), einst mit einer starken Fraktion im Parlament, ist durch ein Poroschenko-Dekret von 2015 ebenso verboten wie das Zeigen kommunistischer Symbole. „Ich sympathisiere nicht mit der KPU, sie ist zu konservativ und hielt immer Tuchfühlung zu den Oligarchen“, sagt Ischtschenko. „Aber ich übersehe nicht, dass es die Post-Maidan-Regierung für die Linke beinahe unmöglich gemacht hat, am politischen Leben teilzunehmen. Selbst Formationen, bei denen es sich um proeuropäische Sozialdemokraten handelt, bewegen sich heute am Rande der Legalität. Wenn die Regierung jemanden wie mich verhaften wollte, könnte sie das ohne weiteres tun“, meint Volodymyr Ischtschenko, bevor er aufsteht, seine Jacke schließt und das bescheidene Kaffeehaus verlässt.
Auf der Straße schlägt einem die kalte Abendluft ins Gesicht. Grauer Herbstschnee vermischt sich mit zerfallendem Laub auf dem Trottoir. Ischtschenko verschwindet in der Menge, die ihn so gleichgültig aufnimmt wie das bleierne Licht eines verdämmernden Tages.
Kommentare 14
bis auf den letzten absatz: nüchterne prosa,
die das aufblasen rosa-gefärbter ballons verhindern sollte.
Lassen wir mal Prosa Prosa sein und kommen von der Dichtung zur Wahrheit. Meldung des Tages: In der Ukraine sind gerade zwei Kinderbücher mit den Staaten über altrussische Recken wie Ilja Muromez und den Räuber Nachtigall verboten worden. Weiterhin sind weitere 20 Bücher russischer Verlage neu auf den Index gesetzt worden. Da helfen auch keine dichterischen Postings gegen nationalistische Auswüchse.
sorry, Sagen statt Staaten
>>In der Ukraine sind gerade zwei Kinderbücher mit den Staaten über altrussische Recken wie Ilja Muromez und den Räuber Nachtigall verboten worden. <<
Haben sie die Bücher gelesen? Dann können sie uns ja eventuell verraten warum deren komerzielle Einfuhr verboten wurde.
Also was das eine Buch über die russischen Recken angeht, so hat man sich sogar in Russland in verschiedenen Rezensionen darüber aufgeregt, dass man in dieser überarbeiteten Version die Recken so durch den Dreck zieht und falsche Vorbilder für die Kinder schafft. Können sie das bestätigen?
Wenn die beiden Sagen eine politische Hetzschrift aus dem bösen Putin-Land wären, könnte ich ja noch ein gewisses Verständnis für die Indexierung aufbringen. Nur waren es bis dato allgemein in beiden Ländern gelesene und verfilmte Werke historischer Gemeinsamkeit. Oder hat Deutschland Rotkäppchen aus dem Märchenschatz herausgenommen, weil es in Frankreich den bösen Wolf anklagt? Es geht doch auch gar nicht um diese beiden Sagen, es geht um 20 weitere Bücher, die auf eine Indexliste gesetzt wurden! Für mich steht die Frage, will die Ukraine sich fit machen für unsere europäische Idee, unsere Werte, oder will sie ein Streithammel an der Grenze zu Russland sein? Ich brauche einen solchen Partner in der EU nicht. Aus und Punkt. Allerdings hatte ich auf Ihren Einwurf schon gewartet.
Ich verstehe sie nicht. Haben sie nun auch nur eines der Bücher gelesen? Dann erzählen sie doch mal was darin steht. Oder reicht ihnen, dass Ilja Muromez drauf steht? Bevor man Überschriften aus russischen Medien nachplappert sollte man einfach mal Überlegen. Aber bei ihnen haben die russischen Medien ihr Ziel ja schon erreicht.
So nebenbei, würde ich gerne die Reaktion in Deutschland sehen, wenn die Märchensammlung der Gebrüder Grimm im Originaltext mit bunten Bildern als Kinderbuch erscheinen würden. Wir kennen doch nur die bearbeiteten Fassungen.
Erstens sollten Sie Ihre Phantasien und hieraus abgeleitete Vermutungen über mich zurückschrauben. Ilja Muromez habe ich in jungen Jahren als Film gesehen. Allerdings nicht die neuen Adaptionen in Comics usw.
Zweitens habe ich keine Überschriften aus russischen Medien nachgeplappert. Die Meldung stammt vom Staatlichen Komitee für Fernsehen und Rundfunk vom Diestag auf seiner Webseite und wurde aus Kiew von DPA gemeldet und in der Mitteldeutschen Zeitung am Mittwoch, 6.12 17 auf Seite 4 abgedruckt.
Drittens, ich brauche keine Indoktrination aus Russland, auch nicht aus der Ukraine.
Viertens, Ihren letzten Absatz verstehe ich nun gar nicht. Es gibt viele Nacherzählungen und illustrierte Ausgaben der Märchensammlung der Gebrüder Grimm und ich kann mich nicht erinnern, dass z.B. Frankreich diese Bücher verboten hätte, da ja viele dieser Märchen teils ihre Herkunft und Entsprechung in Frankreich haben.
Fünftensgeht es mir nun auch gar nicht um die beiden explizit genannten Werke auf dem erweiterten Index. Der Skandal ist, dass es eine solche Liste überhaupt gibt in einem Land, dass sich zum Ziel gesetzt hat, in die europäische Wertegemeinschaft aufgenommen zu werden.
Sechsten sollten Sie genau darüber mal nachdenken, ehe Sie wüste Vermutungen über mich anstellen.
Die meisten Staaten im Osten sind nicht so organisiert, daß eine Aufnahme in die EU sinnvoll wäre oder war. Die Probleme haben die EU zurückgeworfen und könnten sie zerbrechen.
Nur die wirtschaftlichen Vorteile sind für diese Länder interessant. Alles andere wird eher boykotiert.
Ungarn, Ukraine, Türkei, eigentlich auch Polen usw. haben kein Interesse an einem geeinten Europa. Gelder aus Brüssel nimmt man gerne, Verpflichtungen sind wiederum Einmischung in die inneren Angelegenheiten.
Wenn sie etwas nicht verstehen, dann könnten sie sich ja mal damit beschäftigen.
Aber es ist wahrscheinlich einfacher beim Wort Ukraine gleich die große Keule raus zu holen, ob es passt oder wie im Falle des obigen Artikels überhaupt nicht passt. Wissen sie, da sind mir Menschen wie der beschrieben Wolodymyr Ischtschenko tausend Mal sympatischer. Diese Menschen gehören auf jeden Fall in die EU.
Ach mal so nebenbei, auch in Deutschland gibt es eine Liste indizierter Literatur.
Ich habe keine große Keule geschwungen. Ich habe etwas angesprochen, was mir an den Entscheidungen der ukrainischen Regierung nicht gefällt und warum es mir nicht gefällt. Wenn Sie es als große Keule ansehen, muß ich wohl einen empfindlichen, unangenehmen Punkt getroffen haben. Was auch beweist, dass Sie mit keinem einzigen Argument gegenhalten.
>>Was auch beweist, dass Sie mit keinem einzigen Argument gegenhalten.<<
Also Aufzuzeigen, dass sie überhaupt nicht wissen worum es in den auf den Index gesezten Büchern geht, sie darauf hinzuweisen, dass es entgegen ihrer Behauptung auch in Deutschland, wie auch in vielen anderen Ländern, es einen Index von Büchern gibt, das alles sind für sie keine Argumente?
Wenn sie auf Grund ihrer falschen Annahmen, dann noch unaufgefordert von sich geben, dass die Ukraine kein Partner der EU sein soll, dann finde ich die Keule schon recht groß.
Wie würden sie es eigentlich finden wenn man in Deutschland eine der Urversionen von Rotkäppchen, bunt illustriert mit großer Schrift für Kinder verkaufen wollte. Ich meine die Version, wo der Wolf dem Rotkäppchen das Fleisch der Großmutter zum Abendbrot vorsetzt ...
Das ist der Knaller, jetzt wollen Sie mir schon vorschreiben, wozu und wann ich meine Meinung kund tun darf! War ja auch nicht anders von Leuten zu erwarten, die Bücher verbieten gut heißen. Was kommt da noch alles von Ihnenß Gott und unsere Demokratie bewahre uns davor.
Für sie scheint Demokratie und ihre Meinung eine echte Einbahnstraße zu sein. Sie haben gefragt, ich habe geantwortet. Sogar auf ihre Märchen, auf das mit dem Rotkäppchen bin ich eingegangen. Naja und als Antwort die üblichen Vorwürfe ...
O.K., Sie bevorzugen die Gegenrichtung zu meiner Einbahnstraße! War ja auch nicht anders anzunehmen nach all Ihren Beiträgen hier in der FC. Ihre Richtung ist klar.
Übrigens haben Sie immer noch nicht geschnallt, daß es eben kein Märchen war, Russ./Ukainische Märchen durch die Kiewer Regierung auf den Index zu setzen. Wahrheit ist manchmal bitter und tut sehr.