Technologisches Kokain

Power corrupts, PowerPoint corrupts absolutely Ein Software-Produkt wird gescholten oder: Wie aus billiger Kulturkritik wertvolle Medienkunde wird

Um den eigenen Vortrag zu veranschaulichen und mit zusätzlichem Material zu versehen, griff man früher zu Dia- und Tageslichtprojektor. Heute greift man dafür zu Beamer, Laptop und, am wichtigsten, zu PowerPoint, der Präsentationssoftware, die zusammen mit Word, Excel, Access und Outlook in Microsofts Office-Paket mitgeliefert wird. Problemlos lassen sich damit Bilder und Text, aber auch Tonbeispiele und Filme zu Schaubildern zusammenstellen und auf die Leinwand projizieren. Seit im April 1987 die erste Version von PowerPoint veröffentlicht worden ist, hat das Programm eine beispiellose Verbreitung erreicht. Microsoft schätzt, dass jeden Tag 30 Millionen Vorträge gehalten werden, die durch PowerPoint unterstützt werden, das wären 347 Präsentationen in der Sekunde. Ermöglicht wurde dieser Erfolg auch durch eine Programmfunktion, die sich "Auto Content Wizard" nennt, eine Hilfestellung, die dem Nutzer viele Formatierungs- und Gliederungsentscheidungen abnimmt und die Präsentation scheinbar automatisch erzeugt. Nicht zuletzt wegen dieses Features ist PowerPoint in letzter Zeit in die Kritik geraten und für inhaltsleere oder sogar realitätsverzerrende Kommunikationsprozesse verantwortlich gemacht worden.

It is a structure for following your intuition and your obsessions. It is the hyperfocused scribblings of the mad and the gifted.
(David Byrne, Learning to love PowerPoint)

Es ist ein Gemeinplatz, dass man nicht den Boten für die schlechte Nachricht verantwortlichen machen darf. Doch genau das findet zum wiederholten Male statt: die Geißelung einer neuen Technik, die tatsächlich eine schlechte Nachricht überbringt, die man aber als Boten neuer Gesellschaftsumstände betrachten sollte.

Die Rede ist von PowerPoint. Es dürfte kein Zufall sein, dass jetzt von allen Seiten auf diese Anwendung von Microsoft geschossen wird. Zwar besteht kein Anlass, Bill Gates in Schutz zu nehmen, aber man muss schon den richtigen Sack schlagen, wenn man den Esel treffen will. Den Reigen eröffnete kulturpessimistisch der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer in der Frankfurter Rundschau: "Je perfekter die technische Darbietung, desto kunstloser und nachlässiger wird die sie begleitende Sprache: eine schlechte Kopie geschriebener Sätze."

Schlaffer pflegt ein uraltes bildungsbürgerliches Ressentiment gegen Medientechnik, das im übrigen stets die Auswahl dessen beeinflusst hat, was Leser, Studierende und Nachwuchsforscher nach Auffassung gebildeter Autoritäten unter "Literatur" zu verstehen hatten. Der Professor mag das ganze neumodische Zeug nicht, und deswegen krallt er sich am Missbrauch neuer Medien fest, ohne deren große Möglichkeiten zu erwähnen. Und dazu gehört auch der von Schlaffer identifizierte Höhepunkt medialer Dekadenz, die "virtuelle Universität", bei der sich Lernende zuhause und unterwegs anschauen können, was sie ansonsten in standardisierten, schlecht (gelaunt) präsentierten Vorlesungen oder Seminaren geboten bekommen, oftmals in Räumlichkeiten, deren Verwahrlosung dem vom Katheder dargebotenen Genuschel und Geraschel voll entspricht.

Die Journalistin Julia Keller verstieg sich in der Chicago Tribune dazu, in PowerPoint tatsächlich eine Emanation des Teufels zu sehen, und sie bemühte einen anderen Klassiker des Sittenverfalls: Es sei "technologisches Kokain - ganz einfach am Anfang zu umarmen, sehr schwer anschließend loszuwerden." Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wärmte dann einen Essay des Graphikdesignprofessors Edward Tufte (Yale University) auf. Sein Buch The Cognitive Style of PowerPoint ist ein großangelegter Angriff auf das Präsentationsprogramm, und im Zentrum steht nun eine vernichtende Kritik einer Folie, mit der NASA-Techniker über den Zustand der Hitzeschilder der Columbia informieren wollten - niemand habe dem verklausulierten und verstümmelten Satzfetzen entnehmen können, dass eine vermeidbare Katastrophe bevorstand, und deswegen sei sie eingetreten. Genüsslich zerpflückt Tufte das stümperhafte Design und verweist darauf, dass in einem Gespräch die Techniker eindringlicher auf die Gefahr hätten hinweisen können.

Dass PowerPoint-Präsentationen oft eine Plage sind, darüber muss man wohl kaum streiten. Aber statt Hinweise zu geben, wie man das Design verbessern könnte und in welchen Fällen man besser ganz auf das Programm verzichten sollte, zieht Tufte den kategorischen (und in Amerika inflationär angebrachten) Schluss: "PowerPoint is evil." Seiner Meinung nach hat es "einen distinktiven, definitiven, durchgesetzten und weitverbreiteten kognitiven Stil, der ernsthaftem Denken konträr entgegengesetzt ist." Kurz gesagt: PowerPoint kontrolliert seine Benutzer und zwingt sie dazu, dumm zu werden. All seiner Kunstfertigkeit und Erfahrung zum Trotz ist für Tufte also der Mensch eine willenlose Maschine, die sich in jede beliebige Richtung, vorzugsweise abwärts, schicken lässt. Wie immer, wenn es um neue Medien geht.

Denn die Debatte um PowerPoint beherbergt alte Argumente der Medienkritik als untote Wiedergänger: Angeblich reduziert und verfälscht es Tatsachen, formatiert das Denken, zerstört menschliche Interaktion, ersetzt das Reale und, Gipfel der Kulturkritik: macht hörig. Es bewahrheitet sich eine These, die eine Juristin namens Johanne Noltenius 1958 mit Blick auf die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft aufgestellt hat und die in geringer Variation zuvor schon für Fotografie, Telefon, Film, Radio und Fernsehen galt: "In dem Augenblick, in dem die Wirkung und Verbreitung eines Kommunikationsmittels durch die technische Entwicklung besonders gefördert wird, wird ganz automatisch die Forderung nach Kontrolle des Kommunikationsmittels erhoben." Gewissermaßen aus Generationserhaltungstrieb. Auch ein Emeritus der Literaturwissenschaft verteidigt seinen Katheder.

An PowerPoint gibt es nichts zu idealisieren, seine Fehler sollen nicht beschönigt werden. Gerade die massenhafte Verbreitung und die ungebrochene Popularität - es wird geschätzt, dass jeden Tag 30 Millionen Präsentationen erstellt werden - sind ein Grund, es als Boten einer Nachricht zu verstehen. Die Konsequenz aus all den Tiraden der Tuftes, Schlaffers und Kellers wäre, den Boten umzubringen, sprich PowerPoint abzuschaffen. An den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, auf die das Programm eine Antwort darstellt, sei sie nun gut oder schlecht, wird dadurch nicht gerührt.

Wieso zahlte Microsoft Ende der achtziger Jahre 14 Millionen Dollar für die Firma Forethought von Bob Gaskins, um dessen Programm PowerPoint in sein Office Paket integrieren zu können? Warum nahm die Marketingabteilung von Microsoft Mitte der neunziger Jahre einen Witz der Techniker ernst, die von einem "Auto Content Wizard" sprachen, und fügte eben diese Funktion dem Programm hinzu? Was bedeutet es, wenn es heutzutage ebenso unpassend wäre, zu einem Meeting ohne PowerPoint-Präsentation zu gehen wie ohne Hose zu erscheinen? Und wenn man die zynische Metaphorik der Gegner mal ernst nimmt: Wie kann PowerPoint als Droge wirken und warum kommt so unglaublich viele Menschen nicht mehr davon los?

Das Bemerkenswerte daran, dass es so viele schlechte PowerPoint-Präsentationen gibt, ist nicht ihr Mangel an Qualität, die hat ihre Entsprechung in Milliarden von schlechten Texten, Bildern, Filmen, sondern dass überhaupt so viele Vorträge gehalten werden auf der Welt. Es mag ja sein, wie Heinz Schlaffer es meint, dass der Redner früher in Athen auf der Agora stand, "frei sichtbar im Sonnenlicht" und ein in mühevoller Kleinarbeit geschliffenes Lehrbuchstück der Rhetorik zum Besten gab, aber heutzutage muss offensichtlich jeder irgendwo etwas vortragen. Das gilt für Wissenschaftskommunikation ebenso wie für "business communication", für die PowerPoint offensichtlich geschaffen wurde, für die Austüftelung neuester Werbe- und Überredungsstrategien ebenso wie für die Vorbereitung eines Kirchentages. Zeit und Ausbildung reichen dabei nicht für ciceronische Kunststücke. PowerPoint ist ein Symptom dafür, dass sich Kommunikationsstrukturen geändert haben. Im Wandel von einer Produktions- zu einer Wissensgesellschaft kann man nicht mehr stumm am Fließband stehen und das Reden den Managern und Professoren da oben überlassen, man muss stets auch Daten sammeln, auswerten, aufbereiten und vermitteln, und das möglichst leicht konsumierbar und in einigermaßen sichergestellter und standardisierter Qualität.

PowerPoint ist so weit verbreitet, weil es genau dieses Bedürfnis zu befriedigen scheint. Für viele Menschen ist es die einzige Möglichkeit, einigermaßen professionell auftreten zu können, ohne dass sie dazu besonders ausgebildet worden wären. Es hilft bei der Gliederung des Materials, es bietet schnelles und sauberes Layout, es gewährleistet Kompatibilität zu den allermeisten technischen Ausstattungen der Orte, wo man vortragen muss. Und außerdem ist es ein Geländer, an dem man sich entlang hangeln kann, weil einen die ubiquitäre Situation des Vortragens überfordert.

Edward Tuftes Beobachtung trifft zu, dass PowerPoints "kognitiver Stil" Ähnlichkeit hat mit der Struktur von Datenverarbeitung - "zutiefst hierarchisch, gruppiert, höchst strukturiert, ausschließlich sequentiell, eine-kurze-Zeile-nach-der-anderen" - und von Marketing - "hohes Tempo, ohne Ziel, Fürsprache statt Analyse, Denken in Slogans, Markenzeichen, übertriebene Behauptungen, Marktplatzmoral". Aber weder verstärkt PowerPoint das, noch hat es gar solche Strukturen hervorgerufen. Wir haben es hier mit demselben Denkfehler zu tun, der Computerspiele für Gewaltexzesse von Schülern zur Verantwortung ziehen will.

Eigentlich richtet sich die Kritik also nicht gegen PowerPoint, sondern gegen elektronische Datenverabeitung, gegen Marketing, gegen gesellschaftliche Strukturen, die aber nicht als solche bezeichnet und kritisiert werden. Reaktionär ist diese Vorgehensweise, weil sie einen vorherigen, besseren Zustand suggeriert, der korrumpiert worden ist. Schlaffers Agora-Beispiel ist bezeichnend, denn genau dieselben Klagen konnte man schon auf dem Athener Marktplatz vor 2.400 Jahren hören. Das Aufstöhnen (und die begeistert kopfnickende Zustimmung der Claqueure) richteten sich nicht gegen elektronische Präsentationsprogramme, wohl aber gegen das damals neueste Medium. Sokrates erzählte die Geschichte des Gottes Theuth, der vom ägyptischen König Thamus für eine seiner Erfindungen gescholten wurde: "Also nicht für das Gedächtnis, sondern für das Wieder-Erinnern hast du ein Elixier erfunden. Von der Weisheit aber verabreichst du den Zöglingen nur den Schein, nicht die Wahrheit; denn vielkundig geworden ohne Belehrung werden sie einsichtsreich zu sein scheinen, während sie großenteils einsichtslos sich und schwierig im Umgang, - zu Schein-Weisen geworden statt zu Weisen." Was war geschehen? Theuth hatte sich erdreistet, die Schrift zu erfinden.

Wenn wir nun dümmer als Schlaffer sind, weil wir PowerPoint benutzen, war dann Sokrates es auch? Weisheit scheint eine Welle zu sein, die stets in der eigenen Generation ihren Höhepunkt besitzt und so seit Jahrtausenden durch die Menschheit rollt. Wichtiger als es zu verdammen ist es, PowerPoint zu gestalten. Nicht PowerPoint mit seiner geringen Auflösung und den Bullet-Point-Vorlagen verstümmelt womöglich den Text der Rede, ebenso kann die Versprachlichung eine ganzheitlichere Einsicht in Informationszusammenhänge verstellen - Zusammenhänge, die besser visuell dargestellt werden sollten, mit malerischer, photographischer oder filmischer Grammatik. Warum lehrt man also nicht, wie man Storyboards erstellt? Wie man Schaubilder designt? Wie man Bilder (vor)liest? Warum sind Schulen und Universitäten so schriftfixiert und unterrichten selten in freier Rede? Kurzum: Warum gibt es die Fächer Visuelle Kommunikation und Rhetorik nicht im Lehrplan?

Oder einfach Medienkunde? Wovor sich die PowerPoint-Kritiker drücken, ist genau diese pädagogische Aufgabe, die untrennbar zur Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse gehört. Vorleser Schlaffer vertraut ganz auf seine Sprachmächtigkeit - lassen wir es bei klugen Worten und geschliffener Rhetorik, wo über Goethe und Kafka zu reden ist, PowerPoint ist für Leute, die mit weniger "Gehirn, Lunge und Stimmbänder" auskommen, vulgo: für Naturwissenschaftler, Linguisten, Sozialforscher. Tufte wendet sich an eben solche, und seine destruktive Kritik verwundert umso mehr, als er anerkannte Bücher zur "Visualisierung von Wissen" erarbeitet hat. Auf diesem Gebiet nun hat sich in letzter Zeit eine erstaunliche Diskrepanz ergeben: Immer stärker dringen bildgebende Verfahren in den Vordergrund und es häufen sich Tagungen zu diversen Spielarten der "Bildwissenschaft", auch ist jedem Hochschullehrer bekannt, dass Studierende sich immer mehr an audiovisuellen Medien bilden, aber alle diese Umstände werden in der Wissenschaftskommunikation kaum reflektiert, geschweige denn praktisch bearbeitet.

PowerPoint und seine diversen Mac- und Linux-Varianten stellen hier eine neue Sorte von Kommunikation dar, die, ähnlich wie eine E-mail weder Brief noch Anruf ist, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oszilliert. Wer diese Verfahren in den Uni- und Wissenschaftsbetrieb einführt, kommt einem Filmemacher nahe, der Text und Bild in ein gescheites Verhältnis bringen, also weder allein mit Bildern argumentieren noch auf übliche orale Erzähl- und Erklärverfahren zurückgreifen kann. Die Mischung macht es, und hier braucht man sich nicht auf die Rabulistik der Microsoft-Tutorials einzulassen, sondern sollte sich an Virtuosen orientieren, die den immer schon schwierig zu dosierenden Einsatz visueller Mittel beim Tafelbild und bei der Illustration von Aufsätzen und Büchern beherrschten (Rudolf Steiner und Joseph Beuys haben daraus eine echte Kunst gemacht).

Konkrete Fragen stellen sich bei heutigen Multimedia-Anwendungen zu Layout, Gliederung, Text-Bild-Proportion, Animation, zur Frage, wie aus Zahlen Bilder werden und wie Bilder wiederum eine mündliche Erläuterung nach sich ziehen. Solche Verfahren lernt und lehrt man nur, indem man sie einübt, aber sicher nicht, indem man sich Ihnen kategorisch verweigert oder sie als Teufelszeug abtut. Microsoft und andere Karawanen ziehen derweil ungestört weiter, und für Bildanalphabeten muss weiterhin der "Auto Content Wizard" einspringen und das Gröbste regeln.


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