Telenovela am falschen Ort

Roman Mario Desiati verkitscht in „Zementfasern“ eine Tragödie der Gastarbeiterwelt

Nichts gegen einen ordentlichen Schuss Romantik, aber was der italienische Romancier und Journalist Mario Desiati in seinem zweiten Buch Zementfasern an Gefühligem liefert, übersättigt den Leser. Man kommt sich zum Teil wie in einer südländischen Telenovela vor. Schattige Olivenhaine über einem Meer, in dem sich – wie könnte es sonst sein – die Sonne gold-funkelnd spiegelt: So oder so ähnlich mutet das ab Seite 54 ständig an.

Gut möglich, dass Desiati mit diesem Kulissenkitsch einen starken Kontrast zum ernsten, dunklen Thema seines Romans erzeugen wollte. Zementfasern erzählt von der Familie Orlando und einigen ihrer Freunde und Bekannten, die aus ihrem süditalienischen Dorf in die Schweiz gehen, um dort als sogenannte Saisonniers zu arbeiten und ihren Traum vom besseren Leben zu verwirklichen. Es folgt die Desillusions- und Leidensgeschichte.

Die Arbeit in der Zementfabrik ist hart und gefährlich: Längst wieder in ihrer Heimat, sterben fast alle der mit Asbest vergifteten Männer einen langsamen und grausamen Tod. Die Frauen bleiben zurück und müssen zusehen, was sich von den Scherben ihres Lebens noch zusammenkleben lässt. Der Autor greift die Arbeitsimmigration der siebziger Jahre auf und versucht mit seinem Roman, den Opfern eine Stimme zu verleihen.

Doch gute Absichten alleine reichen nicht. Hier werden sie von kleinteiligen Geschichten überschattet. Eine Regel für Filme besagt: Die Hauptfigur muss eine persönliche Geschichte haben, die unabhängig vom übergeordneten Plot trägt. Diese Regel scheint sich Desiati auch für seinen Roman fest vorgenommen zu haben und schießt leider übers Ziel hinaus.

Das persönliche Drama rotiert um die weibliche Hauptgestalt, Mimi Orlando. In der notdürftigen Unterkunft in der Schweiz wird sie mit 14 Jahren vom 18-jährigen Pati schwanger. Pati haut ab, man erfährt erst am Ende des Romans warum. Alleinerziehend muss Mimi ein Leben lang mit den Konsequenzen „ihrer ersten und einzig großen Liebe“ leben.

Mehr Stringenz

Damit wäre man sogar thematisch bei der südländischen Telenovela angekommen. „Lauf, Arianna, kümmere dich nicht um die Kratzer an den Fussgelenken und um die Nachttierchen, die dich in die Arme beißen, lass dich nicht von den winzigen fluoreszierenden Partikeln der Glühwürmchen verzaubern, lauf bevor es zu spät ist, bevor Pati eine Dummheit begangen hat“, bibbert Mario Desiati an einer Stelle mit seinem Charakter laut mit.

Es bleibt eine pathetische Liebesgeschichte, die über die Romanjahre hinweg – zumindest für den Leser – sowohl ihren Charme, als auch ihre Spannung verliert. Da hilft es auch nicht, dass der Leser des Buches vom Anfang an im Wissen liest, dass die Handlung auf realen Geschehnissen und echten Personen beruht. Der wie sein Roman-Personal in Apulien geborene Desiati wollte anscheinend auf starke Frauen und eine solide Charakterkonstruktion setzen: Mimi und ihre Tochter Arianna, die sich gemeinsam durchs Leben schlagen, sind entschlossen, ihre verstorbenen Landsleute zu rächen oder zumindest die Tragödie nicht vergessen zu machen.

Aber auch diese Wendung geht nicht auf. Hier eine Affäre mit leicht pornografisch anmutenden Details, dort ein mystisches Selbstgespräch: Das ist die etwas irritierende Formel, nach der der Autor seine Mimi Orlando gebacken hat. Und zwischendurch sterben die Dorfmänner nach und nach an den Folgen der Asbest-Vergiftung.

Ein bisschen mehr Ordnung und Stringenz hätten der Erzähltechnik des 35-Jährigen nicht geschadet, und man wird das Gefühl nicht los, dass er ein so ernstes und reichhaltiges Thema verschenkt hat. So wirkt der sowohl von der Sprache als auch von den Bildern her überladene Roman fast etwas anachronistisch: In einer Zeit, in der es eigentlich meist um die Säuberung der Sprache von allem Überflüssigen geht, zieht Mario Desiati den Leser in einen üpigen Tagtraum, aus dem einen nicht mal mehr eine schreckliche Massentragödie des 20. Jahrhunderts wachrütteln kann.

Zementfasern Mario Desiati (Annette Kopetzki, Übers.) Wagenbach 2012, 288 S., 19,90 €

Noemi Mihalovici ist 1988 in Rumänien geboren. Zuletzt schrieb sie im Freitag über Funny van Moneys Romandebüt

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