Als der Zug abends in die Halle des Budapester Ostbahnhofs rollt, stehen alte Frauen am Bahnsteig. Sie halten den wenigen Ankommenden große Pappschilder entgegen. Auf denen steht in Druckbuchstaben: "Zimmer frei". Aber die Zeiten haben sich geändert, und das Interesse der Reisenden tendiert gegen Null. Wer vor 30 Jahren als DDR-Mensch nach Ungarn gereist wäre, hätte sich über ein solches Angebot gefreut, denn seine armseligen Devisen reichten für kein Hotel, nicht einmal für das schäbigste. Ich gehe vom Keleti palyaudvar, wie Ostbahnhof auf Ungarisch heißt, zu meinem Hotel, das ich bereits in Berlin für einen moderaten Preis gebucht habe. Vor der gelben Halle erstreckt sich ein weiter, abgesenkter Platz, über den man autofrei die Metro
die Metro und die nahegelegenen Straßen erreichen kann. Früher flirteten dort die Liebespaare, heute haben sich Obdachlose ihr Bett gemacht. Sie liegen auf Matratzen unter verdreckten Federbetten und schlafen, während Passanten durch ihr "Schlafzimmer" gehen. Neben einer Liegestätte sind ein paar Bücher gestapelt wie in einem normalen Heim. Unter einer Decke kuschelt sich ein Paar Wärme suchend zusammen. Mein Hotel heißt "Metropol" und befindet sich in der Rakoczi utca, die zur Donau führt. Gegenüber liegt das altehrwürdige "Palace"-Hotel, in dem ich Anfang der siebziger Jahre einmal für sündhaft teures Geld eine Nacht verbracht habe. Es ist geschlossen. Das ganze Haus steht grau und leer, es ist nicht auszumachen, ob das Gebäude abgerissen oder renoviert werden soll. Die danebenliegende Konditorei "Hauer" hat ebenfalls dicht gemacht. Am Abend der Ankunft gehe ich noch ein paar Schritte um die Ecke meines Quartiers auf den großen Ring, der einige Jahrzehnte lang nach Lenin benannt war, ehe er jetzt wieder traditionell nach den Habsburgern heißt, die auch für Ungarn zuständig waren. Ziel ist das beliebte, legendäre Kaffeehaus "New York", das zu volksdemokratischen Zeiten zwar "Hungaria" hieß, aber nichts von jenem Flair eingebüßt hatte, das es als Literatentreff in den zwanziger Jahren besaß. Vor dem riesigen Bau steht ein ebenso riesiges Holzgerüst, alles wirkt tot und leer. Ein Zettel am Eingangsportal des "New York" informiert darüber, dass man umgezogen sei in die Dohanyi utca. Dort erwartet einen ein mittleres Espresso, das für den "New-York-Sucher" schnell zum Depresso wird. Am nächsten Morgen bummle ich über den großen Ring. Das Kino "Bastya", in dem ich in den Siebzigern manchen Film sah, den es in der DDR nicht zu sehen gab, ist von oben bis unten mit Plakaten zugeklebt. Es sind wenigstens keine Filmplakate. So wie das "Bastya" sind auch eine Reihe anderer Kinos geschlossen worden. Aber das dürfte nicht das Hauptproblem jenes Landes sein, das in kommunistischer Zeit einmal die fröhlichste Baracke im sozialistischen Lager genannt wurde. Vielleicht sollte man nicht nach Dingen suchen, die es nicht mehr gibt. Beispielsweise nach den wunderbaren Etterems, diesen Selbstbedienungsgaststätten, in denen der des Ungarischen Unkundige einfach auf die herrlichsten Nudelaufläufe, die Bohneneintöpfe, die Fischsuppen oder die Strudel zeigen musste, um das Gewünschte zu bekommen. Die Etterems waren Stätten des Austauschs von Jung und Alt, dort aßen die Büroangestellten, die Arbeiter und die Touristen. Die Preise waren erschwinglich für alle. Unvergesslich die Szene, als eine sächsische Touristin ihr schönes Paprikagulasch mit Kartoffeln noch ein wenig landestypischer machen wollte und dem Essenausteiler mitteilte, er möge ihr das Ganze bitte "mit Noggorln" servieren. Das, was auf deutsch schon schwer als Nockerln zu erkennen war, ließ den Mann ratlos zurück, obwohl die sehnsüchtige Sentimentale ihren Wunsch immer lauter herausschrie. Nichts mehr mit Etterems, deren berühmteste an der Bajcsi Zsilinsky ut, an der Rakoczi und an der Margarethenbrücke lagen. Sie sind entweder ganz weg oder haben sich in McDonalds beziehungsweise Dönerschuppen verwandelt. Frustriert möchte man die Frage herausschreien: "Ungarn, habt Ihr den Verstand verloren?" Das Einzige, was Euch Euer unverwechselbares Gesicht gab, Eure Eigenheiten in Leben, Zusammensein und Essen, habt Ihr einem internationalen Mischmasch geopfert, der ausnahmslos vorherrscht. Und während man gastronomisch eine langweilige Globalisierung hingenommen hat, kehrt man auf geistigem Gebiet aus der Internationale in heimatliche Gefilde zurück. Die Majakowskistraße heißt beispielsweise wieder Königstraße. Es scheint, dass der Weg des Landes aus den Zeiten des so genannten Gulaschkommunismus unter Kádár in die Epoche der Marktwirtschaft und der EU-Mitgliedschaft mehr als steinig ist. Ein Staat, der über so wenig Bodenschätze wie Ungarn verfügt und dessen Visitenkarte eine funktionierende Landwirtschaft war, dürfte es künftig schwer haben. Der Umbruch hat die Strukturen bloßgelegt. Wie ein Skelett darf es der Außenstehende besichtigen. Die Infrastruktur inbegriffen. So fährt die 1970 in Betrieb gegangene neue Metro noch immer mit den damals aus Moskau importierten Waggons, die inzwischen etwas ramponiert aussehen. Die Preise für das Verkehrsmittel sind noch halbwegs moderat, obwohl die Zeiten, als man nur eine Münze in die Automaten stecken musste, damit die Schranke zum Zug hochging, längst vorbei sind. In den U-Bahn-Zugängen herrscht das Heer der Bettler. In der Blaha-Lujza-Utca, der Haltestelle neben meinem Hotel, bezieht jeden Nachmittag ein Blindenpärchen Station. Sie stehen still, mit vorgestreckter offener Hand. Wenn er eine Münze bekommt, fühlt der Mann schnell ihren Wert. Seine Frau raucht. Ein Amputierter sitzt ihnen gegenüber auf der Treppe und zeigt mir seinen Stumpf aus der Hose. Sicher hat es all diese Menschen auch früher schon gegeben, und vermutlich ging es ihnen auch schon vor 15 Jahren nicht gerade glänzend. Aber diese scharfe Zäsur zwischen Arm und Reich, wie sie Budapest im Frühsommer 2001 seinen Besuchern vorführen muss, ist neu.Es macht keinen Spaß, mit dem eigenen Geld in der Tasche nette Restaurants an der vornehmen Vaci utca zu besuchen, in denen man keine Einheimischen mehr trifft, es sei denn, Parvenüs. Im schönen Café "Gerbeaud" am Vörösmarty ter ist es nicht anders. Dort scheinen die Preise selbst dem Gast aus der Ferne sehr hoch, wie mag es da erst einem Ungarn ergehen, der seinen mokka dupla schätzt? Wo sind sie alle hin, die charmanten Budapesterinnen und feurigen Budapester, die früher am späten Nachmittag über den großen Ring flanierten? Sitzen sie heute vor dem Fernseher, oder telefonieren sie von zuhause nach einem neuen Job herum? Oder arbeiten die Beweglichsten von ihnen in Österreich, Deutschland oder in der Schweiz? Man wüsste gern Genaueres. Aber dafür reicht ein kurzer Aufenthalt im kühlen, sommerblauen Budapest des Jahres 2001 nicht aus.
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