Testfall Ariel Scharon

Belgien Bei einer Anklage gegen den israelischen Premier wegen begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit schrecken Justiz und Politik vor ihrer eigenen Courage zurück

Ein humanitäres Völkerrecht soll einmal die Rechtsprechung eines Internationalen Strafgerichtshof (ISGH) prägen, dessen Statuten bereits 1998 auf einer UN-Konferenz in Rom formuliert wurden. Bisher haben jedoch erst 28 nationale Parlamente das Leitdokument des ISGH ratifiziert. Um es in Kraft zu setzen, wären 60 Ratifikationen notwendig. Vor allem der US-Kongress lehnt das Statut ab, auch wenn Präsident Clinton kurz vor seiner Demission den Vertrag über das Tribunal unterschrieben hat. So bleibt - abgesehen vom Haager Jugoslawien-Tribunal und dem Ruanda-Tribunal in Arusha - vorerst nationaler Rechtspraxis die Entscheidung überlassen, welche Völkerrechtsnormen zur Anwendung kommen. Belgien ist in dieser Hinsicht weiter als andere EU-Staaten.

Er hat nun doch lieber einen Rechtsbeistand zur Abwehr der lästigen Anklage gesucht, statt sich auf seine diplomatische Immunität als amtierender Regierungschef zu verlassen. Niemand weiß schließlich, wie sich die belgische Staatsanwaltschaft letztlich entscheiden wird. Hält sie sich an geltendes Recht, muss sie die Vorwürfe gegen Ariel Scharon aufnehmen und einen Prozess einleiten. 23 Palästinenser haben den israelischen Premier beschuldigt, 1982 direkt für den Massenmord an palästinensischen Flüchtlingen in den Lagern von Sabra und Shatila während der israelischen Besetzung des Libanon verantwortlich gewesen zu sein. Der Antrag auf Eröffnung eines Strafverfahrens ging am 19. Juni bei der Brüsseler Justiz ein. Genau zehn Tage nach Abschluss eines ersten spektakulären Prozesses in Belgien, bei dem vier Ruander wegen der Beteiligung an der Ermordung Tausender Tutsi im April/Mai 1994 zu hohen Gefängnisstrafen (s. Kasten) verurteilt wurden.

Die Rechtsgrundlage für diesen Richterspruch - wie eben jetzt auch für die Klage gegen Scharon - liefert ein belgisches Gesetz aus dem Jahr 1993, das die UN-Konvention gegen Kriegsverbrechen als direkt anwendbares innerstaatliches Recht einstuft. 1999 wurde darüber hinaus der Grundsatz gesetzlich fixiert, dass die belgische Rechtsprechung gemäß der UN-Charta prinzipiell verpflichtet ist, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zu verfolgen. Zur Anwendung kam diese Norm bisher allerdings immer nur dann, wenn in Belgien lebende Angehörige von Opfern afrikanischer, lateinamerikanischer oder arabischer Diktaturen bei den Gerichten klagten. Spätestens seit der Anzeige gegen Scharon mangelt es nun nicht an Versuchen, »Auswüchse« dieser Rechtspraxis schnellstens einzudämmen.

Anfangs war bei Ermittlungen der belgischen Justiz gegen ausländische Politiker in der Regel absehbar, dass die Recherchen irgendwann eingestellt würden. Immerhin hatte auch ein Brüsseler Richter einen Haftbefehl für Augusto Pinochet ausgestellt, als der 1998/99 in London unter Hausarrest stand. Aber natürlich stand von vornherein außer Zweifel, sollten die Briten den Ex-Diktator tatsächlich ausliefern, dann allenfalls nach Spanien, nicht nach Belgien. Doch spätestens, seit es den »Fall Scharon« gibt, zeigt sich bei der Regierung ein sichtliches Unbehagen. Die gesegneten Zeiten eines realpolitischen business as usual dürften vorbei sein, wenn künftig der Umgang mit Amtskollegen anderer Staaten davon überschattet wird, dass sie der Inhumanität und des Völkermords bezichtigt werden.

Scharon beispielsweise schlug bei seiner ersten Rundreise als Premier einen Bogen um die EU-Hauptstadt und traf sich mit dem belgischen Außenminister Louis Michel, der gegenwärtig den EU-Vorsitz ausübt, lieber in Berlin. Als Michel im Vorjahr Kinshasa einen Antrittsbesuch abstattete, vermochte nur ein administrativer Trick den Eklat zu verhindern. Denn gegen den kongolesischen Gastgeber lief ein Fahndungsersuchen des Brüsseler Untersuchungsrichters Jan Vandermeersch. Außenminister Yerodia hatte im August 1998 in mehreren Rundfunkansprachen zu Pogromen an ruandischen Tutsi in Kinshasa gehetzt, die teilweise auch stattfanden. Wenn Michel mit dem inkriminierten Politiker dennoch locker antichambrieren konnte, war das allein dem Umstand zu verdanken, dass eine internationale Ausschreibung des Haftbefehls bewusst verzögert wurde.

Klagen gegen Saddam Hussein, Hashemi Rafsanjani, Paul Kagame, Laurent Gbagbo

Mittlerweile ist in Brüssel eine ganze Reihe von Klagen gegen Mitglieder oder gar Chefs ausländischer Regierungen anhängig. Familienangehörige belgischer Entwicklungshelfer, die in Guatemala beziehungsweise Kambodscha ermordet wurden, klagen die dortigen Behörden der Mithilfe an. Kurdische Flüchtlinge beschuldigen Iraks Herrscher Saddam Hussein des Genozids. Iranische Emigranten werfen dem ehemaligen Teheraner Parlamentspräsidenten Rafsanjani Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter vor. Exil-Ruander und Kongolesen legen Beweismaterial gegen den ruandischen Präsidenten Paul Kagame vor (er soll die Beseitigung Tausender Hutu-Flüchtlinge befohlen haben). Und gerade noch rechtzeitig vor den Gerichtsferien Anfang August ging eine Klage gegen den neuen Staatschef der Elfenbeinküste, Laurent Gbagbo, wegen ethnischer Verfolgung der muslimischen Minderheit während einer mörderischen Wahlkampagne im Oktober 2000 ein.

Der Prozess gegen die »eifrigen Nonnen« - Ein Präzedenzfall

Am 3. April hatte nach jahrelang verzögerten Ermittlungen in Brüssel der Prozess wegen Völkermordes gegen zwei ruandische Nonnen und zwei weitere Angeklagte aus dem ostafrikanischen Land begonnen. Die Ordensschwestern Consolata Mukangango (genannt Schwester Gertrude) und Julienne Mukabutera (Schwester Maria Kisito), der Universitätsprofessor Vincent Ntezimana und der ehemalige Minister Alphonse Higaniro sahen sich mit der Anklage konfrontiert, im Mai 1994 maßgeblich an Massakern gegen die Tutsi-Minderheit beteiligt gewesen zu sein. Den Ordensschwestern wurde im Einzelnen nachgewiesen, dass sie direkt Gräueltaten im Kloster von Sovu vorbereitet hatten, bei denen in drei Phasen mehrere tausend Menschen ermordet wurden. Unter anderem lieferten sie den extremistischen Hutus der Interahamwe-Milizen Hunderte hilfloser Tutsis aus und halfen, ein Nebengebäude des Klosterkomplexes von Sovu in Brand zu stecken, in dem sich über 500 Flüchtlinge verbarrikadiert hatten. Acht Wochen lang stand das Brüsseler Gericht im Banne eines Genozids, der vor sieben Jahren im 6.000 Kilometer entfernten Ruanda gewütet hatte. Am 7. Juni dann befanden die zwölf Geschworenen nach elfstündiger Beratung alle Angeklagten für schuldig. Zwei Tage später verkündete das Gericht die Urteile: Für Vincent Ntezimana 12 Jahre Gefängnis, für Alphonse Higaniro 20 Jahre. Die mit ihnen anklagten Schwestern Gertrude und Maria Kisito mussten das Strafmaß 15 respektive 12 Jahre Gefängnis hinnehmen. In ihrer Urteilsbegründung beriefen sich die Richter ausdrücklich auf ein 1993 erlassenes Gesetz, wonach im Sinne des universellen Völkerrechts Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Belgien verfolgt und geahndet werden können, selbst wenn sie im Ausland und von Menschen begangen wurden, die keine belgischen Staatsbürger sind.

Inzwischen ist eine »Arbeitsgruppe« der belgischen Regierung - derzeit eine Koalition von Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen mit dem Flamen Verhofstadt an der Spitze - damit beschäftigt, dem Parlament nach der Sommerpause ein Änderungs-Gesetz vorzulegen. Der wichtigste Denkansatz, der dabei verfolgt wird, ist prompt der Verzicht auf Anklageerhebungen gegen »amtierende« (auswärtige) Regierungsmitglieder bei Untersuchungen, mit denen die belgische Justiz befasst ist. Das käme einem Kurswechsel um 180 Grad gleich und stände in eklatantem Widerspruch zu den UN-Konventionen, die vor dem Hintergrund der Verfolgung von Nazi-Unrecht bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Immunität amtierender Regierungsmitglieder ausdrücklich aufgehoben hatten.

Außerdem wird eine »Durchführungsverordnung« erwogen, die es nur noch belgischen Staatsangehörigen erlaubt, als Nebenkläger vor Gericht aufzutreten. Das wäre zum Nachteil anderer im Lande ansässiger Bürger, also von Emigranten, die in Belgien Zuflucht gefunden haben. Schließlich könnte demnächst die Geschäftsverteilung in der Justizverwaltung das ihre tun, um Verfahren verstauben zu lassen. Gerade die Vorgeschichte zum Prozess um die vier Ruander bietet sich dafür als Modell an. Der Untersuchungsrichter dieses Falles wurde dermaßen mit anderen Verfahren eingedeckt, dass es von ihm eine geradezu heroische Arbeitsmotivation forderte, die Sache verfahrensreif zu machen. Derweil klagen die Justizoberen auch darüber, dass die »enormen« Kosten bei derartigen Verfahren auf Dauer für den belgischen Staat »eigentlich untragbar« seien. Wenn »jedermann irgendeine Klage gegen egal welchen ausländischen Verdächtigten« einreichen könne, so der Brüsseler Generalstaatsanwalt, ergebe das früher oder später eine Prozesslawine. Die eigene Justiz habe es ohnehin schwer genug, die Verfahren zwischen den eigenen Landsleuten abzuhandeln.

Ein Untersuchungsausschuss der Knesset gibt den Klägern Recht

Als Reaktion auf die Klage gegen Scharon haben inzwischen Mitglieder seiner Likud-Partei angekündigt, mehrere Verfahren gegen Palästinenser bis hin zu Präsident Arafat vor belgischen Gerichten anhängig machen zu wollen, unter anderem wegen des Attentats auf die Olympischen Spiele 1972 in München und der Entführung des Luxuskreuzers Achille Lauro 1985. Die belgischen Medien wie auch zuständigen Ministerien werden dazu ausgiebig mit Material versorgt, während der Regierungssprecher unermüdlich »bestätigt«, dass man es mit »gänzlich privaten Initiativen« zu tun habe. Die Regierung in Tel Aviv oder gar Ariel Scharon persönlich seien daran völlig unbeteiligt.

Aber es war nun einmal der israelische Premierminister, der die Anzeige in Belgien zur Staatsaffäre erhob, indem er eine Strafverteidigerin anheuerte, die nicht nur zu den prominentesten Juristinnen Belgiens zählt, sondern bizarrerweise gerade die Nebenklage im Ruanda-Prozess vertreten hatte. Ihre Qualifikation entspricht dem Gewicht des Falles. Denn die Anzeige von 23 in Belgien ansässigen Hinterbliebenen der 1982 ermordeten Palästinenser ist vor allem deshalb gegen die Person des ehemaligen Militärbefehlshabers Scharon gerichtet, weil er das Eindringen libanesischer Falange-Milizen in die Flüchtlingslager Sabra und Shatila in eigener Vollmacht organisiert hatte. Ein Vorgang, dessen Sachlage von einem Untersuchungsausschuss der Knesset (Kahane-Kommission) 1983/84 genau so rekonstruiert worden war. Dieses Gremium hatte freilich keine Befugnis zu irgendwelchen Sanktionen. Auch seitens der israelischen Justiz wurde in dieser Angelegenheit nie etwas gegen Scharon unternommen. Doch die Aktenlage ist so eindeutig, dass die belgische Justiz nach der Klage der Hinterbliebenen bei der bestehenden Gesetzeslage gezwungen sein müsste, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Seitens der Regierung in Brüssel, die seit 1. Juli den EU-Vorsitz führt und gar zu gern im eskalierenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern vermitteln möchte, hat der liberale Justizminister Mitte Juli das Abgeordnetenhaus beschworen, so schnell wie möglich amtierende Regierungs- und Staatschefs von einer Verfolgung durch die eigene Justiz auszunehmen. Doch das Parlament zeigte bislang wenig Neigung, sich mit einer Novellierung der entsprechenden Gesetze zu beeilen.

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