The Getaway

Kehrseite II Ich muss einen doppelten Boden finden. ...

Ich muss einen doppelten Boden finden.

In meiner Jugend hieß es: Hör dir die neue Scheibe von Black Sabbath an, das dritte Lied! Aber nicht vorwärts, sondern rückwärts. Vorwärts wäre das zwar eine richtig klasse Heavy-Nummer über einen Motorradfahrer, doch wenn man den Song rückwärts laufen ließe, könne man einen anderen Text erkennen. Satans-Anbetungen seien da eingebaut, weshalb die Platte garantiert auf den Index käme. Meist irgendwelche Älteren aus der Zwölften oder Dreizehnten behaupteten das. Sie kamen immer an die coolsten Scheiben. Und zwar deshalb, weil sie einen kannten, der einen kannte, dessen Cousin der Experte schlechthin war im Schallplattenrückwärtshören. Schließlich kursierten gar Gerüchte, selbst Chris de Burgh habe irgendwo ein Lied versteckt, das rückwärts eine teuflische Botschaft beinhalte. Wo genau, wusste niemand. Das war spannend. Keiner meiner Freunde hatte jemals auf irgendeiner Platte so eine Botschaft gehört.

Mein Bruder hatte damals fünf LPs: eine Tina Turner, eine Grace Jones, zwei Sampler der Kreissparkasse und genau ein Album von Chris de Burgh. The Getaway.

Eines Nachmittags setzte ich mich vor seine Stereoanlage und spielte die ganze Platte rückwärts ab. In angemessener Lautstärke, um auch wirklich nichts zu überhören. Es klang so, als würde man ein paar Anfänger auf Instrumenten herum experimentieren lassen, während ein Bergbauer aus Tadschikistan ein paar alte Volkslieder zum Besten gibt. Mit der Zeit wurde ich ungeduldig und drehte schneller. Das klang auch nicht anders, außer, dass es der Tadschike jetzt eiliger hatte. Teuflische Botschaften konnte ich nirgends erkennen. Ich war enttäuscht, wollte mir aber nicht eingestehen, dass Chris de Burgh wirklich nur ein harmloser Softie war. Erst die Ohrfeige meines Bruders, der sauer war wegen der ruinierten Nadel des Plattenspielers, machte mir klar, dass man sich mit dem Reich des Bösen besser nicht anlegt. "Die Nadel kannst du wegschmeißen!" ärgerte er sich. Ab diesem Tag hatte ich keine Schallplatte mehr rückwärts gehört. Jahrelang nicht.

Eine halbe Ewigkeit verstaubten die Scheiben im Keller, direkt neben dem Weinregal. Mir haben die Softies von damals nicht gefehlt. Sie saßen einfach unten im Keller und haben gewartet, bis sie irgendwann wieder zum Zug kommen. Letzte Woche Freitag war es soweit. An diesem Tag habe ich einen von ihnen hoch ins Wohnzimmer gebeten und gesagt: Lange nicht gesehen. Nimm Platz. Hilf mir! Seither sitze ich ununterbrochen vor meinem alten Plattenspieler und ruiniere eine Nadel nach der anderen, weil ich nicht akzeptieren kann, dass es Botschaften ohne doppelten Boden gibt. Seit Freitag vergangener Woche, als Valerie mit leiser Stimme sagte "Vielleicht ein halbes Jahr noch, vielleicht ein ganzes."

Das Weinregal ist längst leer, The Getaway zerkratzt.

Es gibt in jedem von uns die Chance, einen Satz von hinten aufzurollen, und alles mit einem Mal ins Gegenteil zu kippen. Vielleicht gibt es diese Chance noch immer? Niemand auf Erden hat je bewiesen, dass Chris de Burgh keinen doppelten Boden hat. Ich höre nicht auf, zu hoffen. Dieses Gefühl von damals möchte ich wieder haben. Ich brauche es. Unbedingt. Zu spüren, dass etwas nicht das bedeutet, wonach es klingt.

Jochen Weeber, geb. 1971 in Vaihingen/Enz, lebt in Reutlingen, im November erscheint sein neuer Erzählband "Apothekenbäume".


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