Zuschauer eines Krieges zu sein, der sich nicht im eigenen Land abspielt, sei eine ganz heutige, moderne Erfahrung, schreibt die Essayistin Susan Sontag in ihrem jetzt unbedingt wieder zu lesenden Buch Das Leiden anderer betrachten.
Die Flut der Bilder, die uns vom Krieg in der Ukraine erreicht und auf die wir mit Schrecken, Angst, Mitleid, Empörung, aber eben auch mit Sensationslust reagieren, macht uns dabei unweigerlich und „ob wir wollen oder nicht, zu Voyeuren“. So jedenfalls schreibt es Sontag.
Der Krieg in der Ukraine hat auf verstörende Art und Weise die antike Denkmetapher des theatrum mundi – die Welt ist uns zu einer Bühne geworden – wiederbelebt. Wahrnehmungsweisen dieser Art treten uns zum Beispiel in der medialen Heroisierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj entgegen.
Er ist für viele offenbar zu einer Art Lieblingsheld geworden. In Zeitungen lese ich Porträts, in denen steht, Selenskyj sei zwar als ukrainischer Präsident nicht besonders erfolgreich gewesen, aber mit dem Ausbruch des Krieges habe er „zur Rolle seines Lebens gefunden“; eine Rolle, die „wie für ihn gemacht“ sei und in der er jetzt „ganz aufgehen“ könne. Vom Komiker zum Kriegshelden – diese Erzählung scheint viele zu begeistern.
Auch die Parlamente in Frankreich, den USA und Deutschland sind nicht frei von Begeisterung und theatralem Pathos. Sie lassen sich die dramatischen Hilfs-Appelle von Selenskyj per Liveschalte von Kiew direkt in das heimische Auditorium holen. Der Schauder der ergreifenden Reden, die am Ende mit Standing Ovations beklatscht werden – aber dann geht man eben auch wieder nach Hause. Die Show ist vorbei. So wie nach einem normalen Theaterabend auch.
Das Theatermotiv zieht sich durch: ob bei Wladimir Putin, dem erklärten Puppenspieler mit seiner „Marionettenregierung“ im Kreml, oder in der inszenierten Pose eines waffenbehängten bärtigen Hipsters, den man eher im Prenzlauer Berg als in Kiew verorten würde; Fotos, die zu Beginn des Krieges mit nicht nachvollziehbarem Hype immer wieder in den sozialen Netzwerken geteilt wurden.
Im Betrachten des Leidens anderer prallen zwei widersprüchliche Dinge aufeinander, schreibt Susan Sontag. Einerseits haben wir als Betrachter die Deutungshoheit über das Kriegsgeschehen, das nur über Bilder zu uns dringt. Andererseits ist dieses Geschehen für „uns“, die wir in der Mehrzahl nie etwas von dem erlebt haben, was die Menschen in der Ukraine durchmachen, unmöglich zu begreifen. Es ist vollständig unmöglich, zu verstehen, „wie furchtbar, wie erschreckend der Krieg ist und wie normal er wird“.
Das wurde vergangene Woche überdeutlich, als uns die Bilder vom zerbombten Theater in Mariupol erreichten, unter dessen Trümmern mehr als 1.000 verschüttete Menschen vermutet wurden. Das Statement des Deutschen Bühnenvereins zu diesen schrecklichen Bildern ging auch auf den symbolischen Gehalt des Vorgangs ein. Das vernichtete Theater stehe „sinnbildlich für die Zerstörung kultureller und humaner Wurzeln“, hieß es da, und das zeige, „wie brutal die Kriegsführung von Putins Armee“ sei – als ob es zu dieser Erkenntnis noch ein bombardiertes Theater gebraucht hätte.
Bilder helfen uns nicht, etwas zu begreifen, schreibt Susan Sontag, „nur Erzählungen können uns etwas verständlich machen“. Und insofern ist es ein wirklich hoffnungsvolles Unterfangen, dass sich mittlerweile über 100 deutschsprachige Theater verpflichtet haben, ukrainische Theaterkünstler*innen zu beherbergen und aufzuführen. Dies werden dann vielleicht die Bühnen sein, auf denen es möglich ist, sich der Realität des Krieges angemessen zu nähern.
Kommentare 18
das ist (un-)ziemlicher quark !
"wir" schauen nicht als un-beteiligte voyeure,
etwa durch ein dicke glas-scheibe getrennt,
auf ein interessierendes getümmel in ein terrarium.
1.) gibts nur teil-ansichten, der zusammenhang des geschehens
erschließt sich nicht und "bestätigte fakten" sind mangel-ware.
2.) der zustrom von kriegs-flüchtigen ist greifbar,
die bedrohung nicht auf eine kriegs-bühne beschränkt,
es gibt keinen trennenden orchester- graben zwischen krieg und
publikum.
Schlimm ist dabei, dass es so angenehm ist, "auf der richtigen Seite der Geschichte" zu stehen und "Putin-Versteher" so zu verdammen wie Putin selbst. Wie moralisch kann es sein, sich in seiner Solidaritaet mit der Ukraine zu sonnen und Tausende Ukrainer - und Russen - fuer "unsere Freiheit" sterben zu sehen?
Zunächst wollte ich den beiden bisherigen Kommentaren zustimmen. Dann las ich noch mal den Anfang:
Wir begreifen nicht, ..., aber verstehen nicht
DDas
Das - und das erstaunt und verstört die Verfasserin offensichtlich - ist sogar überlebensnotwendig.
Ich stand auf der Leitung und verstand Sie infolge ihrer Zeichensetzung nicht.
Ich kann mich an Frau Marburg allerdings hineinfühlen (natürlich nicht wirklich, weil ich ein Mann bin; aber was heißt denn 'wirklich' hineinfühlen?)
Gestern wurd ich auf 'The War Diary of Yevgenia Belorusets' aufmerksam (Google https://www.google.com/search?q=The+War+Diary+of+Yevgenia+Belorusets) und hab ihr tägliches Tagebuch aus Kyiv auf isolarii.com abonniert. Berührend.
...,,'bestätigte fakten' sind mangel-ware." Ja! Wie sollen wir hier mit Nachrichten aus der Ukraine umgehen, die stets korrekterweise mit dem Zusatz versehen sind: "...kann nicht unabhängig bestätigt werden."
Auch nach 3 Wochen kommt keine präzise Information zu diesem Ereigniss !!! Jeder denkende denkt: da ist doch was faul... hoffentlich nicht.
wozu ist eine klärung der augenblicklichen lage nützlich ?
um sich auf die seite der sieger zu schlagen?
"Der Schauder der ergreifenden Reden, die am Ende mit Standing Ovations beklatscht werden – aber dann geht man eben auch wieder nach Hause. Die Show ist vorbei. So wie nach einem normalen Theaterabend auch." Soweit die Autorin vom Deutschen Bundestag spricht, ist das eben nicht so einfach. Wenn sich die Abgeordneten gefallen lassen, ihr Parlament zur Showbühne zu machen, dann verfehlen sie ihren Auftrag und verweigern ihre Arbeit. Das ist ein politischer Akt und keineswegs folgenlos.
Es ist richtig, dass niemand, der nicht die entfesselte Gewalt des Krieges am eigenen Leibe erlebt hat, versteht. Nur Zuschauer sind viele von uns in Deutschland auch nicht, die Einen reagieren ganz praktisch, indem sie Flüchtlinge aufnehmen, andere reagieren mit Verdrängung, indem sie sich 1000 Gründe erfinden, dass die Invasion der russischen Armee und ihr Morden gerechtfertigt seien. Und unsere Bundesregierung hat innerhalb weniger Tage eine vollkommene Kehrtwendung ihrer Politik gegenüber dem Gewaltregime in Moskau vorgenommen. Ob wir gerade eine "Zeitenwende" erleben? Wer kann dies schon jetzt wissen.
Die Ihnen gedanklich zur Verfügung gestellten Alternativen sind - fast - so beeindruckend wie die der deutschen Vor-Denkerin (die mit Querdenken oder Mitdenken schon überfordert wäre) Merkel aka Raute.
Dass es hier Habenichtse gibt, haben Sie sicherlich schon mal gehört oder gelesen. Dass die gerne einen Teil der Bringschuld der politischen 'Elite' eingelöst sehen wollen, liegt auf der Hand. Nächstenliebe VOR Über-Nächstenliebe. Oder besser schweigen.
Schauen Sie sich an, wie sich hier Hoteliers überschlagen, Ukrainer (alimentiert) aufzunehmen. Auf der anderen Seite Deutsche, die keinerlei Unterstützung erhalten, um die alltäglichen Unbillen und Zumutungen dieser Zeit kompensieren zu können.
Sie fabulieren hier von 'Zeitenwende' und einem 'Gewaltregime in Moskau.' Gewalt in Deutschland stört Sie offensichtlich nicht.
Mal die eigene Denkmaschine anstellen - und die Lüftung der Kuppel betätigen.
Viel Erfolg dabei!
Sagen wir es ruhig ein wenig deutlicher:
der deutsche Bundestag ist zu einem Kasperle-Theater degeneriert. Viele Hans-, Gretel- und Sternchenwürste, auch vegan agieren auf der Bühne. Und das pöse Krokodil.
Dümmer geht's nimmer, nur noch mit spezieller Dosissteigerung.
„Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.” sagte einst George Santayana. Helmut Kohl hat daraus „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten“ gemacht. Wobei "nicht kennen" auch die Bedeutung von "nicht wahrhaben wollen" oder "nicht zur Kenntnis nehmen wollen" bekommen kann. Wie dem auch sei: Der Krieg in der Ukraine kann nicht verstanden werden, ohne den Kosovo Krieg, der die Büchse der Pandorra geöffnet hat – in jeder Hinsicht – die Bombardements der Nato und alles, was die Weltpolitische Wertegemeinschaft danach toleriert und durchgesetzt hat. Jenseits jeder Parteinahme oder Rechtfertigung. Auch nicht ohne die Osterweiterung, jenseits aller vertragsrechtlichen Fragen. Aujch nicht ohne die Duldungsstarre der EU was die Einhaltung des Minsker Ankommen betrifft. Und es gibt noch sehr viel mehr Leid, das auf das eigenen Konto geht, das man als historische Tatsache, auf einer ähnlichen Ebene an sich heranlassen müsste, wie das jetzt mit der Ukraine der Fall ist – wenn man tatsächlich die Gegenwart verstehen und seine Vergangenheit nicht wiederholen möchte. Ich persönlich glaube, dass der Wunsch vorhanden, aber kaum jemand zu den persönlichen Konsequenzen bereit ist, die das mit sich bringen würde; und unsere Politiker und Medien, die sich auf die aktuelle Berichterstattung eingeschossen haben schon gar nicht.
An alle süffisanten Kommentatoren*:
Doch, es ist und bleibt unheimlich wichtig, immer wieder zu sagen, dass es schier "unmöglich (ist) zu verstehen, wie furchtbar, wie erschreckend der Krieg ist".
Krieg entmenschlicht total, und zwar alle Beteiligten. Deshalb ist jeder Krieg ein Verbrechen. Auch dieser in der Ukraine. Auch der Vorkrieg übrigens, seit 2014, um die Donbass-Regionen, mit bis zu 15.000 Toten. Von Kiew gelenkt, von den USA finanziert. (Nicht zuletzt auch die völkerrechtswidrigen Angriffskriege auf Serbien 1999 und den Irak 2003.)
Und weil Krieg nur grauenhaft schrecklich ist, für Mütter, Väter, Frauen, Männer, Kinder, Soldaten (ja, auch für die russischen), muss er schnellstmöglich aufhören können.
Jeder*, der Waffen liefert, ob offen oder verdeckt, macht sich mitschuldig, sollte schlechter schlafen können.
Und jeder*, der an der hiesigen einseitigen Propaganda mitstrickt, ebenso.
»Wir begreifen nicht, also schauen wir zu«
"Wir" begreifen schon. Deswegen handeln "wir" nicht, oder nur in bedeutungslosen symbolischen Ersatzhandlungen.
تاسو، ښاغلی طالبان!اوس د نجونو ټول ښوونځي پرانیزئ، که نه نو... موږ هیڅ عذر نه منو.
Es ist Krieg, da stirbt die Wahrheit immerr zuerst. Man kann ein paar klassische Muster der Kriegspropaganda ausfiltern und in dem Wenigen was übrig bleibt nach Plausibilitäten und Widersprüchen suchen, aber immer mit gesundem Mißtrauen. Und ja, natürlich muß man auch noch checken, ob Aussagen von interessengetriebenen Kriegsgewinnlern kommen könnten - dann sind sie ebenfalls wertlos bis gefährlich.
Übrig bleibt da nicht viel. Ein paar Fakten, die man schlecht leugnen kann weil sie gar zu offensichtlich oder leicht überprüfbar sind, ein paar Erzählungen von Augenzeugen (die natürlich auf keinen Fall irgendwie neutral oder ungefärbt sein können!), ein paar immer gültige grundsätzliche Erwägungen wie daß zum Streiten stets zwei gehören. Nennenswert mehr is nich.
"Seriöse" Medien gibt es in dieser Lage keine. Gar keine. Nein, auch nicht ein bißchen. Weder öffentlich-rechtliche noch private noch staatliche noch zivilgesellschaftliche. Man muß _jede_ Veröffentlichung selbst in Kommentarspalten und jede Aktion (z.B. auch ob Kommentare zensiert oder gekürzt weren oder auch nicht, wie lange Artikel wo stehen bleiben etc.) als Interessengetrieben betrachten und hinterfragen. Ja, auch meine.
Eben mit Argus - Augen ;-) Ich *verlange* aber zutreffende und zuverlässige Informationen wenigstens von unserem öffentlichen Rundfunk. Wenigstens im Nachhinein nach der Recherche. Oder ist das ein Witz?
Da der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland auf keinen Fall als politisch neutral betrachtet werden kann - defakto sitzen in den Rundfunkräten ausschließlich Leute mit den "richtigen" Parteibüchern - wir Ihrem "Verlangen" kaum nachgekommen werden können. Auch diese Medien sind durchaus Teil des Propagandaapparates. Wie so vieles.
Leider schießt uns die Cancel-Culture auch immer mehr Quellen weg, die zwar von zweifelhafter Qualität sein mögen aber zumindest beleuchten könnten wie das Narrativ auf der "anderen Seite" aussieht, und das wär ja auch nicht so unwichtig.
Aber letztlich bleibt die Nachrichtenlage schwierig, wenig belastbar und wenig glaubwürdig. Besonders wenn sie inhaltlich den bekannten Mustern der Kriegspropaganda entspricht - der Inhalt muß dann nicht unbedingt verfälscht sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch überall groß. Insbesondere natürlich bei Quellen, die sich bereits anderweitig durch Verbreitung von propagandistischen Halb- und Unwahrheiten disqualifiziert haben. Und ja, alle großen deutschen Medien haben derlei schon getan.
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