Zu Beginn der Pandemie, als die darstellenden Künste mit den Schließungen rangen, versicherte der Festivalmacher Matthias Lilienthal, damals noch Intendant der Münchner Kammerspiele, das Theater werde wichtig bleiben – als Ort, an dem man nach Corona wieder neu lernen könne, einander zu begegnen. Zwei Jahre Abstand später und nach einem rauschhaften Sommer der Begegnungen, klingen Lilienthals Worte nach.
Weg vom Bildschirm, Maske runter und hinein ins Getümmel, so schien das Sommer-Motto der Theater zu lauten. Mitunter fiel auch die Vierte Wand, die Trennung zwischen Bühne und Publikum. Die Regisseurin Susanne Kennedy und der Künstler Markus Selg etwa inszenierten den 70er-Jahre-Musiktheater-Klassiker Einstein on the Beach des Komponisten Philip
Komponisten Philip Glass und des Regisseurs Robert Wilson als Feier der gemeinsam verbrachten Zeit.Der Clou ihrer Inszenierung, zuletzt zu sehen am Haus der Berliner Festspiele: Man darf sich als Besucher:in frei bewegen. Wer sich herantraut ans Geschehen, steht Aug’ in Aug’ mit Tänzer:innen und Sänger:innen. Das erlaubt atmosphärische Versenkung, weil das verstehende Deuten in den Hintergrund tritt. Auf einen Plot verzichteten Glass und Wilson, oft intonieren die Sänger:innen und der Chor nur Silben. Optisch versetzt die überbordende Ornamentik von Kennedy und Self erst in Taumel, dann in Trance. Ein visueller LSD-Rausch. Die sechs Performer:innen, die als technoide Zukunftswesen archaische Rituale vollziehen, schwitzen in einem Work-out zwar direkt vor einem, verwehren aber jeglichen Blickkontakt. Ein Distanzmoment. Also bettet man sich auf die Drehbühne, um zu beobachten: wer sich wohin setzt, wer Blicke wechselt, wer im Sog des hypnotischen Sounds versinkt, wer sich unwohl fühlt. Nach dreieinhalb Stunden, die man dicht an dicht mit Hunderten anderen Menschen verbringt, fühlt sich das Ende der Aufführung an wie ein Abschied.Immersive Formate wie Einstein on the Beach haben sich im Theater längst durchgesetzt. Aber nach den Distanzjahren hat sich das Erleben von physischer Kopräsenz – immerhin die Grundkonstellation des Theaters – verändert. Die Nähe ist nicht mehr vertraut, man muss sich wieder neu gewöhnen.Vorangebracht hat die intimen, immersiven Formate auch Matthias Lilienthal in seiner Zeit als Künstlerischer Leiter des Berliner Theaters Hebbel am Ufer (HAU). In X Wohnungen war man 2005 zu Performances in Privatwohnungen geladen, zog durch Berliner Kieze und bekam einen künstlerisch verfremdeten Einblick in andere Lebenswelten. Die Gruppe Rimini Protokoll verschaltete 2008 per Telefon Zuschauer:innen und indische Call-Center-Mitarbeiter:innen zum persönlichen 1:1-Gespräch über den Job und das eigene Leben – ein Format, das während der Corona-Zeit wieder aufgenommen wurde. In den performativen Installationen der Gruppe SIGNA wiederum verbringt man eine Nacht im Obdachlosenasyl oder wird in einem eigens errichteten Dorf Teil des Alltags einer Sekte.Öffnung zur SexarbeitAll das sind Theaterformate, die ihr Publikum einbeziehen und ihm Erfahrungsräume bieten. Der Grad körperlicher Nähe variiert dabei. Die Performer:innen bei Susanne Kennedy und Markus Selg verweigern jegliche Interaktion, während bei SIGNA ohne aktive Teilnahme gar nichts geschieht. Andere Projekte schrammen radikal an den Grenzen der Kunst entlang und öffnen sich zu Feldern wie Therapie oder Sexarbeit.Noch kurz vor dem Lockdown hatte die Künstlerin und Regisseurin Sibylle Peters in Hamburg Premiere mit Queens. Der Heteraclub. Ihr temporärer feministischer Nachtclub ermöglicht den Besucherinnen, in der intimen Begegnung mit je einem Performer der eigenen Lust und Laune nachzugehen. Sex im Sinne käuflicher Penetration ist ausgeschlossen, aber einvernehmliche körperliche Annäherung möglich. „Liebesbriefe“ an den Club belegen, wie stark diese Begegnungen wirken. Eine Besucherin bedankt sich für die Wertschätzung, eine andere ist „ganz verzaubert von den Persönlichkeiten“. Eine Notiz gipfelt in Entzückung: „Ich wünsche mir den Heteraclub immmmmmmer.“Im Juni dieses Jahres konnten Sibylle Peters und ihr Team das Queens beim Impulse Festival in Mülheim erneut einrichten. Mit der Pandemie hat sich die Bedeutung des Angebots für sie gewandelt: „Während Corona ist deutlich geworden, dass wir eine Ästhetik der Berührung brauchen, weil Berührung so ungerecht verteilt ist“, erzählt Peters bei einem Gespräch über das Projekt. „Manche Leute werden überhaupt nicht berührt. Das ist gesundheitsschädigend, von den emotionalen Folgen ganz abgesehen.“ Die Regisseurin sieht hier auch die Künste in der Verantwortung: „Ich finde es nicht nachzuvollziehen, warum das Theater Menschen berühren will, aber nur im Herzen.“Für manche mag ein Besuch des Queens persönliche Grenzen überschreiten. Mischformen verbinden ein intensives Miteinander mit der eindeutigen Verankerung im Theaterkontext mit seinen Abstandsregeln. Überzeugend gelang das in der letzten Saison einer Produktion am Berliner Ensemble. Dort vergegenwärtigt die Gruppe Raum+Zeit mit Berlau :: Königreich der Geister das Leben von Ruth Berlau. Die Schauspielerin, Journalistin und Fotografin war in einer Arbeits- und Liebesbeziehung mit Bertolt Brecht verbunden. Lange in seinem Schatten, hat sie in Berlau den starken Auftritt. Brecht ist in die Virtual Reality verbannt, wo er den Zuschauer:innen, die einzeln einem Parcours folgen, als forderndes, schmeichelndes Regiegenie begegnet. „Drecksack“ ertönt kurz darauf eine Stimme, jenseits der VR-Brille, die abzunehmen man gebeten wird. Da sitzt in einem kargen Zimmer Susanne Wolff, die Ruth Berlau spielt, welche eben ein Kind von Brecht verloren hat. Und plötzlich ist man Brecht, wird beschimpft, hört ihre Klage, soll sich verhalten zu ihrem Leid – und gerät in mitfühlende Bewegung. Treten einem danach Amelie Willberg als junge und Esther Hausmann als ältere Ruth Berlau entgegen, ist man schon wortlos am Mitspielen und vermittelt durch Mimik und Gestik die eigene Haltung zu den Episoden aus Berlaus Leben. „Intensiv“ und „ergreifend“, aber auch „verstörend“ und „verunsichernd“ finden die Besucher:innen die Inszenierung. Das Gästebuch legt Zeugnis davon ab. Jemand notiert: „Danke für jede Berührung“.Erlebnisse wie diese mögen derzeit wie privilegierte Vergnügungen erscheinen. Doch machen sie bewusst, was die Existenz als Gemeinschaftswesen im positiven Sinn bedeutet. Und nähren die Hoffnung, dass wir das alles doch noch irgendwie hinbekommen. Diese Hoffnung werden wir, wenn die Zeichen nicht trügen, dringend nötig haben.