Man kann nicht gerade sagen, dass Shou Zi Chew ein besonders produktiver Tiktoker ist. Der 40-jährige Boss der App, die zu einem chinesischen Mutterunternehmen gehört, hat gerade mal 23 Beiträge veröffentlicht und er verfügt über 17.000 Follower – nach den Maßstäben seiner eigenen Plattform ist das praktisch nichts. Chews Tiktok-Profil zeigt ihn als Besucher von Sportereignissen, auf Reisen nach Paris und London, beim Probieren von Nashville Hot Chicken oder Boot fahrend auf einem See, häufig versehen mit Allgemeinplätzen wie: „Ich liebe die Natur!“
Es ist deshalb sicher nicht übertrieben, wenn man sagt, dass Chew kein Influencer ist. Doch sein Einfluss auf eines der am schnellsten wachsenden, populärsten und R
n und – wie manche sagen – gefährlichsten sozialen Netzwerke steht immer stärker unter Beobachtung.Vor Kurzem musste Chew dem mächtigen Energie- und Handelsausschuss des US-Repräsentantenhauses Rede und Antwort stehen. Es ging um eine Reihe von Vorwürfen: zum Beispiel, dass die chinesische Regierung Zugang zu den Tiktok-Daten von US-Nutzer:innen erhalten könnte. Oder dass die App die mentale Gesundheit von Teenagern gefährde. Es steht viel auf dem Spiel für Chew: In den USA wurde die Nutzung der App auf Smartphones von Regierungsangestellten bereits verboten. Großbritannien hat inzwischen nachgezogen. Zudem drohte die Regierung Biden ein nationales Verbot an, sollte die chinesische Muttergesellschaft ByteDance nicht ihre Anteile an Tiktok verkaufen. Ähnliche Forderungen gibt es auch in Europa.Shou Zi Chew stammt aus Singapur und wuchs in relativ bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater arbeitete auf dem Bau und seine Mutter war Buchhalterin. Eine entscheidende Weichenstellung für sein weiteres Leben ereignete sich, als er zwölf Jahre alt war. Sehr gute Noten in einem landesweiten Examen ermöglichten ihm den Besuch einer Elite-Highschool, auf der er neben seiner Muttersprache Englisch fließend Mandarin lernte. Nach seinem Militärdienst – Chew ist bis zum Alter von 50 Jahren Reserveoffizier in der singapurischen Armee – machte er seinen BA in Wirtschaftswissenschaften am University College London. Danach blieb er in der britischen Hauptstadt und arbeitete zwei Jahre lang als Banker bei Goldman Sachs. Der Job im Investmentbanking brachte ihn schließlich in Kontakt mit dem jungen Zhang Yiming, dem Gründer von Tiktoks Mutterunternehmen ByteDance, als dieser dabei war, das Unternehmen in einer engen Wohnung im Pekinger Universitätsviertel zu gründen. 2010 ging Chew dann in die USA und machte seinen MBA an der Harvard Business School. Während eines Praktikums bei Facebook sammelte er erste Erfahrungen mit dem Leben in der Tech-Branche. Damals war das soziale Netzwerk noch im Start-up-Modus und ging dann 2012 an die Börse.Chews spärliche Online-Präsenz passt zu seinem öffentlichen Auftreten. Seit er vor zwei Jahren Tiktok-Chef wurde, verhielt er sich stets ruhig, selbst als seine Firma ins Rampenlicht der Politik geriet. Abgesehen von einigen ausgewählten Interviews agiert er hauptsächlich im Hintergrund, er scheut das Licht der Öffentlichkeit. Bereits im vergangenen Jahr versuchte das Unternehmen etwas gegen die Besorgnis einiger Kongressabgeordneter wegen der Datensicherheit zu tun und dem Vorwurf entgegenzutreten, dass Teenager durch eine exzessive Nutzung der App psychischen Schaden nehmen. Laut eigenen Angaben hat Tiktok inzwischen mehr als 1,4 Milliarden Euro für Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben. Unter anderem veranlasste der Konzern die Löschung von US-Nutzerdaten, die in seinen Speicherzentren in Virginia und Singapur gesichert sind. Außerdem hat Tiktok damit begonnen, den gesamten US-Datenverkehr über Oracle-eigene Server zu leiten. Und nicht zuletzt verkündete das Unternehmen kürzlich, dass es die Bildschirmzeit für unter 18-jährige Nutzer:innen auf eine Stunde täglich reduzieren wolle.Die Unbekanntheit seiner Person in der Öffentlichkeit bewahrte Chew vermutlich davor, persönlich ins Kreuzfeuer der Kritik zu geraden. Andererseits ist diese Unbekanntheit möglicherweise auch ein Problem bei dem Versuch, Gesetzgeber und Bürger davon zu überzeugen, dass die Sorgen vor einer chinesischen Überwachung unbegründet sind. Die Aura des Geheimnisvollen um ByteDance und Tiktok und die Ungewissheit, ob sie etwas Ungesetzliches tun, sei Teil des Problems, meint der Gründer des Branchen-Newsletters Geekout, Matt Navarra. „Chews Unbekanntheit und dass man nicht weiß, wer er ist, kann ein Segen sein. Es ist aber auch ein Nachteil, weil die Leute nachvollziehen und verstehen wollen, was Tiktok und ByteDance sind, um einzuschätzen, wie hoch das Risiko ist.“Chew sagt dagegen: „Tiktok hat nie US-User-Daten an die chinesische Regierung weitergegeben. Auch würde Tiktok einer solchen Anfrage nicht entsprechen, sollte sie jemals gestellt werden.“ Bereits in der Vergangenheit hat Chew immer wieder darauf hingewiesen, dass zwar ByteDance in China sitzt, Tiktok selbst aber in China nicht zum Download zur Verfügung steht und alle US-Nutzerdaten im US-Bundesstaat Virginia gespeichert werden, mit einem Backup in Singapur.Bisher hat die US-Regierung noch keine stichhaltigen Beweise für einen Zugriff der chinesischen Regierung auf Tiktok-Nutzerdaten vorgelegt. Dennoch wird der Druck auf den Tiktok-Chef immer größer, der Ausgang der Debatte in den USA ist dabei von entscheidender Bedeutung für die Zukunft des Unternehmens. Denn falls Tiktok dort verboten wird, werden andere Staaten in Europa sicher nachziehen.