Am 7. Februar 1971 gewährten die Stimmbürger Schweizer Frauen das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht. Bis dahin war die Einführung auf nationaler Ebene im Parlament mehrmals aufgeschoben oder abgelehnt und 1959 in einer ersten Volksabstimmung abgeschmettert worden. 1971 – davon waren viele im Vorfeld ausgegangen – sollte es endlich klappen. Entsprechend war die Abstimmung für Anfang des Jahres angesetzt worden, sodass Frauen für die nächste Parlamentslegislatur kandidieren konnten.
„Erste Nationalrätin erkoren – zweifaches Beispiel für die Emanzipation“, lautete keine zwei Wochen später der Titel eines Porträts über die Kandidatin Tilo Frey im Tagesanzeiger. Frey war 1923 in Maroua, im damals franz
im damals französisch kolonisierten Kamerun, geboren. Ihre Mutter war Kamerunerin, ihr Vater Schweizer. Mit knapp sechs Jahren kam sie mit dem Vater in die Schweiz, die Mutter blieb zurück.Blumiges in den ZeitungenIn den Zeitungen las sich die Geschichte im Wahlkampf dann so: Ein Schweizer Ingenieur reist aus Liebeskummer nach Afrika, lernt dort eine schöne, stolze schwarze Nomadin kennen. Sicher, dass sie in der Schweiz nicht glücklich werden könnte, ließ sie die Tochter, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für diese, mit dem Vater zurückreisen. Ein romantisches Abenteuer, das ökonomische Abhängigkeiten, Rassisierung und koloniale Verhältnisse ausblendete und die Geschichte in eine fantastische Ferne rücken ließ.Placeholder infobox-1Nach einer Ausbildung als Sekretärin bildete Tilo Frey sich als Lehrerin für Stenografie und Maschinenschreiben weiter und unterrichtete ab 1943 an der Höheren Handelsschule in Neuenburg, 1971 wurde sie zur Direktorin der Höheren Töchterschule befördert. Gleichzeitig war sie in der städtischen und kantonalen Regierung. Sie war Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei FDP, hielt Referate und führte Kurse durch, um Schweizer Frauen zur politischen Mitsprache zu ermächtigen. Auf die Frage, weshalb sie nun auch für den Nationalrat kandidierte, antwortete sie dem Tagesanzeiger: „Ich wollte beweisen, dass eine Frau, und dazu noch eine Nicht-Weiße, im Beruf und in der Politik ebenso gut ihre Aufgaben erfüllen kann wie ein Mann.“Am 31. Oktober wurde sie gemeinsam mit elf weiteren Frauen gewählt. Am 29. November traten sie zum ersten Mal ins Parlament ein.In der Berichterstattung dominierte hingegen das neue Rekordhoch rechtspopulistischer Parteien. Die „Überfremdungs-Initiative“, die den Anteil der nicht schweizerischen Bevölkerung beschränken wollte, war ins Zentrum politischer Auseinandersetzung gelangt. Die Initiative wurde knapp abgelehnt, führte aber dennoch zu einer Zäsur der Schweizer Innenpolitik. Fortan konnten – im europäischen Vergleich relativ früh – Wahlerfolge zunehmend mit einer rechtspopulistischen Migrationspolitik erzielt werden.Für den historischen Einzug der Frauen ins Parlament blieb auf den Titelseiten höchstens ein kleine Spalte, Artikel folgten weiter hinten im Blatt. Diese waren ausgesprochen floral: „Blumen für die Damen“, „Damen und Blumen“ oder „Blumiger Fraueneintritt“ lauteten die Überschriften, und in den Texten wurde über noch mehr Blumen, farbige Handtaschen und Halstücher, Mode und Charme sinniert. Die Blumensprache schrieb eine bürgerliche Geschlechterordnung fort, die Frauen nicht mit der männlich-imaginierten Politik zusammendenken konnte. Frauen wurden an eine Semantik der Verzierung gebunden und die Betonung der schmuckhaften Accessoires machte nicht auf ihr politisches Programm, sondern auf ihre vergeschlechtlichten Körper aufmerksam.Auch hier erhielt Tilo Frey eine gesonderte Aufmerksamkeit: Zur Feier des Tages hatte sie sich, in bürgerlicher Manier, in ein helles Kleid geworfen. Angesichts der parlamentarischen Kleiderordnung, die lediglich dunkle Herrenanzüge vorsah, deutete das Schweizer Fernsehen ihren Auftritt als emanzipatorisch. In der Lokalzeitung aus Neuenburg hingegen ließ die „stechende Farbe“ Zweifel an ihrer politischen Qualifikation aufkommen, was als Vertreterin des Kantons besonders bedauerlich sei. Selbst wenn ihr Schwarzsein an diesem Tag nicht erwähnt wurde, wurde sie über die Hell-dunkel-Dichotomie von den anderen Parlamentarierinnen abgehoben.Über Freys Zeit im Schweizer Parlament ist wenig bekannt. Sie unterstützte Gleichstellungsbestrebungen, wollte die Entwicklungszusammenarbeit fördern, setzte sich für eine starke Armee ein, aber stellte sich selten ans Rednerpult. Für eine zweite Legislatur wurde sie nicht mehr gewählt. Ein alter Parteikollege erklärt: „Es war nie vorgesehen, dass sie gewinnt. Wir waren alle überrascht gewesen. Sie hatte von der Partei nie die nötige Unterstützung erhalten.“Entsorgter NachlassBereits 1973 war sie nicht mehr in die kantonale Regierung gewählt worden. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Nationalrat trat sie auch aus der Stadtregierung zurück. 1976 wurde die Höhere Töchterschule geschlossen und sie als Lehrerin wieder in die Handelsschule versetzt, wo sie bis zu ihrer Pensionierung 1984 blieb. Es wurde ruhig um Tilo Frey. Sie verbrachte Zeit in ihrem Haus in Aix-en-Provence. Als bei ihr Krebs diagnostiziert wurde, entschied sie, am 27. Juni 2008 mit der Hilfe der Organisation Exit zu sterben. Bis auf einige Dokumente aus ihrer Amtszeit und einige Geschenke an Freundinnen und Freunde ließ sie ihren gesamten Nachlass entsorgen.Spätestens als die nationale und internationale Presse 2007 Ricardo Lumengo als „ersten schwarzen Nationalrat“ feierte, wurde offensichtlich, dass Tilo Frey weitgehend vergessen worden war. In einem seltenen Interview erzählte sie, wie sie als Kind gelitten hatte, dass ihr auf der Strasse das N-Wort nachgerufen wurde und sie später entschied, dem Rat ihres Vaters zu folgen, den Rassismus nicht an sich heranzulassen, sich nichts zuschulden kommen zu lassen und „weiß zu bleiben wie eine Lilie“.Ungemütlich weiß wurde indessen auch die Schweizer Geschichte. Mit dem Vergessen von Tilo Frey und der Verweigerung, über rassistisch-sexistische Alltäglichkeit zu lernen, verfängt sich die national-hegemoniale Erinnerung in einer ewigen Schlaufe, die Schwarze außerhalb der eigenen Geschichte verortet.
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