Töchterehre - Familienstolz

Internationaler Frauentag 8. März Die Rechtsanwältin Seyran Ates erhält am 8. März den Berliner Frauenpreis der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen

FREITAG: Sie sind sechsjährig mit Ihren Eltern nach Deutschland gekommen ...
Meine Eltern waren schon hier. Sie brauchten Geld, also gingen sie dorthin, wo es zu verdienen war. Mit dem Vorsatz, nach einem Jahr zurück zu kommen. Aber nach einem Jahr war kaum Geld beisammen und so wurden wir nachgeholt. In eine Ein-Zimmer-Wohnung, vier Kinder plus Eltern, nicht das reine Vergnügen. Ein merkwürdig eingeengtes Leben, das ich zunächst nicht begriff. In der Türkei hatten wir einen großen Hof, Spielkameraden, ich durfte raus. Hier ging ich in die Spielschule, lernte Deutsch und lebte ansonsten in den vier Wänden. Ich blieb eingesperrt, auch als Schulkind. Unterworfen den strengen Normen einer traditionellen türkischen Familie, die alles, was sie hier tat, als Übergang, als vorläufig betrachtete. Die Wohnung vergrößerte sich mit der Zeit, die Freiräume für mich als Mädchen wurden immer geringer. Darunter habe ich so gelitten, so dass ich kurz vor meinem 18. Geburtstag weggelaufen bin. Ich habe die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter als so ungerecht empfunden, dass ich meine Sachen gepackt habe.

Sind Traditionen in der Fremde für den Zusammenhalt der Familie wichtiger und werden deshalb stärker betont, als das im Heimatland der Fall wäre?
Stärker betont vielleicht nicht, aber sie unterliegen auch keiner normalen Abnutzung mehr. Man bleibt einfach stehen und bewahrt die Tradition wie ein Päckchen, das die Erinnerung an Geborgenheit enthält und die ohnehin geplante Rückkehr in die Heimat leichter machen kann. Aber es sind auch die Werte, an die man gelernt hat zu glauben. Und die neue Gesellschaft hat sich nicht gerade überschlagen mit Einbürgerungsangeboten. Sie kamen für die erste Generation viel zu spät. Die zweite empfindet sich zwar häufiger als Teil der deutschen Gesellschaft, versteht Einbürgerung aber auch als Demonstration: "Ich gehöre dazu, ob ihr Alteingesessenen es nun wollt oder nicht". Die dritte Generation aber hat gar keine Identität mehr. Sie orientiert sich an dem, was die Familie sagt.

Wächst da sozialer Sprengstoff, der beliebig gezündet werden kann? Ist die Debatte über die Unterdrückung von Frauen auch mit Hilfe des Kopftuchs eine Art Vorgeplänkel?
Das muss man befürchten. Dennoch habe ich meine Probleme damit, im Zusammenhang mit dem Kopftuch deutsche Geschichte zur Rechtfertigung zu bemühen. Es ist nicht redlich, so die scheinbare Notwendigkeit von Toleranz gegenüber dem Kopftuch zu begründen. Der Zustand von Unschuld "Seht, wir haben gelernt, wir sind liberal und dulden alles" ist aus meiner Sicht kontraproduktiv. Ich erlebe ihn ganz stark bei den Grünen, in der PDS und auch bei den Feministinnen. Er grenzt für mich an Missbrauch. Deutschland hat eine belastete Geschichte, das wissen auch wir. Ich selbst lebe nicht umsonst hier am Hackeschen Markt, hier ist jüdisches Leben noch allgegenwärtig. Aber das gibt niemandem das Recht, das Kopftuch als Alibi zu benutzen. Es gehört nicht in die Schule, es hat nichts mit Toleranz zu tun, es ist Ausdruck extremer Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. Mir wird wegen dieser Position manchmal Anti-Islamismus oder gar Rassismus vorgeworfen. Das ist absurd. Ich habe als Muslimin jahrelang für die Rechte von Frauen gekämpft, ich werde nicht zuschauen, wie die Gleichberechtigung in einem demokratischen Land wie Deutschland rissig wird, weil man endlich eine Gelegenheit wittert, die eigene Vergangenheit zu bewältigen.

Der Respekt vor anderen Kulturen und Religionen, haben Sie bei anderer Gelegenheit gesagt, muss aufhören, wenn es um die Verletzung von Menschenrechten geht. Wo sehen Sie diese Verletzungen?
Nicht nur beim Kopftuch. In vielen muslimischen Gruppierungen - und das sind nicht nur die türkischen, viele arabische, viele iranische sind ebenso stark archaisch patriarchalisch strukturiert - ist die freie Wahl des Partners, ein Menschenrecht nach Art. 16 ihrer Allgemeinen Erklärung von 1948, keineswegs garantiert. Nach einer Statistik von terre de femme sollten allein in Berlin 280 Mädchen - und das sind die, die sich gemeldet haben, also schon einen kleinen Schritt in die Selbstständigkeit gegangen sind - gegen ihren Willen verheiratet werden. Die deutsche Linke wohnt zwar multikulti Händchen haltend neben Angehörigen anderer Nationen, aber sie schaut nicht hin, wenn da - zugegeben - subtilere Arten von Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Sie schauen weg, wenn die Mädchen nach den Ferien in anderer Aufmachung daherkommen als vorher. Sie werden im Alter von 15, 16 Jahren in einen Ehevertrag und unter das Kopftuch gezwungen. Deutsche denken, sie respektieren damit eine andere Kultur. Aber dieser Respekt hat falsche Wurzeln. Er begünstigt die Fortschreibung von zweierlei Recht für Männer und Frauen. Der übertriebene Anspruch an die eigene Toleranz macht sie blind und fördert so schlimmste Formen von Intoleranz. Grundrechte dürfen nicht verletzt werden. Aber sie werden es: Allein die Einschränkung der Bildungsmöglichkeiten für Mädchen durch die Familien - sie verbieten ja nicht nur Sport oder gemeinsame Klassenfahrten, der Biologie-Unterricht gilt als gefährlich für Frauen. Man frage sich mal, warum? Ausländerbeauftragte, die sich für das Tragen von Kopftüchern in der Schule aussprechen, müssen sich fragen lassen, warum sie sich nicht gegen Zwangsheiraten stark machen? Ich habe in den letzten 20 Jahren nicht gehört, dass sie protestiert hätten, wenn 14-, 15-, 16-jährige Mädchen von den Schulen genommen wurden, weil sie verheiratet worden sind. Es gibt auf diesem Gebiet im Gegenteil absurde Urteile unter anderem vom Bundesverwaltungsgericht: Danach wird "traditionsbewusstes" Leben muslimischer Familien mit "partieller Behinderung" gleichgesetzt. Und hinzugefügt, jeder behinderte Mensch habe ein Recht auf Begleitung. Wenn also das muslimische Mädchen, das in eine Familie eingebunden sei, deren Mitglieder die hiesigen Normen ablehnen, nicht von Brüdern oder Vater begleitet werden könne, dann sei sie von inkriminierten Unterrichtsveranstaltungen zu befreien.

Läuft das nicht auf Diskriminierung über zweierlei Recht hinaus? Für deutsch-stämmige Kinder werden gesetzliche Hebel in Bewegung gesetzt, um die Teilnahme am Unterricht durchzusetzen? Sie sind Rechtsanwältin...
Ja, das ist eine Behandlung, die die Zweiteilung des Rechts in ein Recht für Deutsche und eines für Ausländer sanktioniert. Nun gibt es das bei Vereinsbildung, Gewerkschaftsgründungen etc. tatsächlich. Es gibt so etwas wie gesonderte Staatsbürgerrechte. Aber die Schulpflicht gilt für alle. Da Ausnahmen zuzulassen, schmälert die Möglichkeiten der Integration, grenzt aus. Das ist eines demokratischen Staates unwürdig und einer der Gründe, warum Integrationspolitik scheitert. Man hält ein vergangenes Jahrhundert frisch. Man lässt einen Staat im Staate zu, denn diese Menschen leben nicht gesetzlos, sie leben nach ihren eigenen Gesetzen. Man hat nicht nur in der Vergangenheit die Bildung und Aufklärung der Zuwanderer versäumt, man investiert auch nicht in die Bildung der Heranwachsenden. Sie sind die eigentlichen Verlierer. Sie haben keinerlei Bezug mehr zur Türkei, werden von den Deutschen aber als Türken gesehen und erfahren keine Gleichbehandlung. Ihr Unterricht findet quasi unter Ausschluss von Deutschen statt - die Ghettoisierung ist so weit fortgeschritten, dass sie an Hand von Straßenzügen in Wedding oder Kreuzberg die Dörfer der Türkei, aus denen die Einwanderer ursprünglich kamen, wieder finden können. Weggezogen sind allerdings die Akademiker, die auch aus solchen Familien hervorgegangen sind. Es ist unerlässlich, dass Staat, Lehrer und Eltern dagegen halten und solche Strukturen aufbrechen. Dafür streite ich, seit ich mein Elternhaus verließ.

Sie erhalten den Berliner Frauenpreis für Ihr Engagement in der Frauenbewegung, Ihren Kampf für die Gleichberechtigung türkischer Frauen und Mädchen und Ihre Arbeit als Rechtsanwältin.
Das greift ineinander. Mein politisches Engagement, meine berufliche Arbeit, die Arbeit mit Frauenprojekten. Ich bin fest davon überzeugt: Gelingt es nicht, muslimischen Frauen in Deutschland die volle Gleichberechtigung zu erkämpfen, wird über kurz oder lang das demokratische Gemeinwesen insgesamt Schaden nehmen. 1984 gab es einen Anschlag auf den Frauenladen, in dem ich arbeitete. Ich habe knapp überlebt, meine Gesprächspartnerin ist gestorben. Die Grauen Wölfe, eine rechtsradikale türkische Gruppierung, waren meiner Meinung nach dafür verantwortlich, verurteilt wurde niemand. Ich habe unter anderem auch daraus gelernt, nur wer seine Rechte kennt, kann sie auch einklagen. Meine Arbeit biete ich inzwischen für Deutsche und Türken an, ich lebe in beiden Kulturen und demonstriere das auch mit dem Standort, an dem ich arbeite.

Und noch etwas: Meine Eltern, meine Geschwister werden der Verleihung des Preises beiwohnen. Sie sind inzwischen stolz auf ihre Tochter. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass sich die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen Leben auch als Wertschätzung des Gesamtpotenzials einer türkischen Familie definieren lässt.

Das Gespräch führte Regina General

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