Mit einem Raub beginnt die Mordserie. In Chemnitz wird ein Edeka-Markt überfallen. Zwei maskierte Bewaffnete erbeuten etwa 30.000 D-Mark. Bei ihrer Flucht schießen sie um sich. Das war am 18. Dezember 1998, gegen 18 Uhr. Für die Bundesanwaltschaft waren Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Täter – und nur sie. Diese Version wurde inzwischen von Beate Zschäpe in ihrer Aussage vor Gericht gestützt. Doch bestand der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) tatsächlich nur aus drei Personen? Konnten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe alleine ihren Lebensunterhalt bestreiten? Oder zeigt gerade die Frage der Finanzierung, dass sie auf einen Kreis von Helfern angewiesen waren? Auf jeden Fall gibt es in der offiziellen Version vom NSU als abgeschottetem Trio viele Merkwürdigkeiten und offene Fragen.
Vom Raubüberfall auf den Chemnitzer Edeka-Markt wurde die Tatwaffe nie gefunden, auch später in der Habe des Trios nicht. Zudem gibt es einen Zeugen, der von drei Flüchtenden spricht. Neben Böhnhardt und Mundlos hätte es also einen weiteren Täter geben müssen. Der Zeuge war damals 16 Jahre alt, und ihm ist eine Kugel nur knapp am Kopf vorbeigeflogen, wie er im vergangenen Sommer vor dem Oberlandesgericht in München schilderte. Dieser Mann, Falco K., galt lange Zeit als verschollen. In der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft steht: „Der Zeuge, der den Vorfall beobachtete und die Täter verfolgte, konnte nicht ermittelt werden.“
Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die ganze ist: Er war damals vernommen worden. Allerdings gibt es die entsprechenden Ermittlungsakten nicht mehr. Auch das liest man in der Anklageschrift: Die Unterlagen „sind von der Staatsanwaltschaft Chemnitz vernichtet worden“. Die Behörde bestätigt das und erklärt, sie könne heute nicht mehr nachvollziehen, warum sämtliche Daten gelöscht wurden – eben „mangels vorhandener Daten“. Die Staatsanwaltschaft räumt ein, dass die Akten nicht hätten vernichtet werden dürfen, denn Raub verjährt erst nach 20 Jahren. Möglicherweise sei das „aus Versehen“ passiert. Wieder nur einer dieser tausend dummen Zufälle?
Die NSU-Verbrechen offenbaren eine seltsame Ost-West-Auffälligkeit. Die Mordanschläge wurden mit einer Ausnahme im Westen verübt, die 15 Raubüberfälle dagegen ausnahmslos im Osten. Allein acht in Chemnitz und drei in Zwickau – Städte, in denen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe lebten. Mehrere Banken liegen in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnungen. Was für die mögliche Ausspähung nützlich gewesen sein könnte, hätte andererseits ein großes Entdeckungsrisiko bedeutet.
Das Haar auf dem Holzpflock
Waren Böhnhardt und Mundlos tatsächlich die Bankräuber? Und wenn ja, waren sie wirklich nur zu zweit? In keiner der Banken wurden eindeutige Spuren von ihnen gefunden, Fingerabdrücke oder DNA-Substanz. Die Fahnder der Kriminalpolizei Chemnitz gingen damals zudem von einem dritten Täter aus, der im Fluchtfahrzeug gewartet haben könnte. Und noch etwas ist auffällig: Die Bankräuber agierten nervös und aggressiv, wie viele Zeugen berichten – die Mörder aber müssen ruhig und kaltblütig gewesen sein. Am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit brachten sie zehn Menschen um. Waren das wirklich dieselben Personen?
Bei einem Überfall im Oktober 1999 wurde ein Haar sichergestellt: in einer Chemnitzer Postfiliale, in derselben Straße, wo die NSU-Mitglieder ein Jahr zuvor noch gewohnt hatten. Auf einem Holzpflock, mit dem die Täter die Tür verriegelten, fand die Polizei das sieben Zentimeter lange Haar und bewahrte es zunächst auf. Lange Zeit später, im Jahr 2005, verschickte die Polizei dieses Beweisstück zur DNA-Bestimmung. Als 2011 die NSU-Gruppe aufflog, erkundigten sich die Chemnitzer Ermittler beim Landeskriminalamt nach dem Haar und erfuhren: Es ist nicht mehr da, und eine DNA-Bestimmung wurde auch nicht durchgeführt.
Es ist nicht der einzige Schwund. Im November 2006 und im Januar 2007 wurde eine Sparkasse in Stralsund überfallen, jeweils von zwei Männern. Laut Bundesanwaltschaft waren es Böhnhardt und Mundlos. Sie erbeuteten zusammen mehr als 250.000 Euro. Nachdem die Behörde 2011 die NSU-Ermittlungen übernahm, schickte die Staatsanwaltschaft Stralsund die Originalakten nach Karlsruhe, insgesamt zehn Ordner. Die Bundesanwaltschaft leitete sie an das Bundeskriminalamt nach Meckenheim weiter, wo die umfangreiche Fracht jedoch angeblich nie ankam. Nachforschungen ergaben, dass die Bundesanwaltschaft die Akten nicht wie üblich per Kurier versandt hatte, sondern mit der Post. Lediglich Kopien der Akten seien noch vorhanden. Deren Vollständigkeit könne mangels Originalakten aber nicht verifiziert werden.
Nach den Überfällen in Stralsund passierte viereinhalb Jahre lang nichts mehr – die NSU-Mitglieder begingen weder Raub noch Mord. Doch im Herbst 2011 wurden sie wieder aktiv: im September überfallen sie eine Sparkasse im thüringischen Arnstadt, schließlich eine Bank in Eisenach am 4. November. Am Ende dieses Tages sind Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot, ihre Wohnung in Zwickau ist abgebrannt, Beate Zschäpe auf der Flucht, und die Öffentlichkeit erfährt zum ersten Mal etwas von einer Gruppierung namens Nationalsozialistischer Untergrund.
Hinweise an Geheimdienste
Insgesamt erbeuteten die Räuber nach bisherigem Wissen umgerechnet etwa 600.000 Euro. Wie viel sie davon ausgegeben haben, wie viel Geld später gefunden wurde – darüber gehen die Angaben auseinander. Dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages hatte die Bundesanwaltschaft 2012 mitgeteilt, in der ausgebrannten Wohnung in Zwickau hätten die Ermittler etwa 190.000 Euro sichergestellt. Doch diese Summe stellt die Behörde inzwischen selber in Frage. Jetzt heißt es, im November 2011 seien um die 114.000 Euro gefunden worden, davon 72.000 Euro aus dem Raubüberfall in Eisenach. Das jedoch würde heißen, dass die drei in mehr als 13 Jahren Untergrund nur 490.000 Euro ausgegeben haben, pro Person und Monat gut 1.000 Euro. Hat das zum Leben gereicht? Oder gab es weitere Einnahmequellen? Zum anderen würde es bedeuten, dass vor dem Überfall noch 42.000 Euro übrig waren, das Geld hätte mehr als ein Jahr gereicht. Warum überfiel der NSU jetzt wieder Banken? Die Fragen sind ungeklärt.
Der Gerichtsprozess in München hat unterdessen noch etwas anderes ans Licht gebracht: Der Verfassungsschutz muss schon früh Hinweise auf Überfälle gehabt haben – durch drei V-Leute des brandenburgischen und des thüringischen Dienstes. Bereits im Jahr 1999 meldete der V-Mann Marcel D. dem Amt, die drei Untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe würden „jobben“ und bräuchten kein Geld. „Jobben“ ist dabei ein Codewort für Überfälle. Das Rätsel wird aber noch größer. Im Sommer 1998 meldete der V-Mann Carsten Sz., das Trio sei dabei, Waffen zu besorgen und wolle danach einen „weiteren Überfall“ begehen. War der Überfall auf den Edeka-Markt vom 18. Dezember 1998 also gar nicht der erste?
Laut zuständiger Staatsanwaltschaft sind für 1998 in Chemnitz keine weiteren Raubüberfälle bekannt, die „im Zusammenhang mit dem NSU stehen könnten“. Doch unter „NSU“ versteht die Behörde nur Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Personen, die zum NSU-Umfeld gehört und Überfälle begangen haben könnten, werden ausgeblendet. Am 26. März 1998 überfielen drei Männer eine Sparkasse in Chemnitz. Zwei wurden gefasst, einer entkam. Dieselbe Filiale wurde Jahre später noch zwei Mal heimgesucht – angeblich von Böhnhardt und Mundlos. Vielleicht hat die Finanzierung der Mordserie schon viel früher begonnen.
Ein Überfall tanzt übrigens aus der Reihe: Im Oktober 2006 schoss in Zwickau ein einzelner Bankräuber einem Lehrling in den Bauch und floh ohne Beute. Der Lehrling wurde dabei schwer verletzt, hätte beinahe sein Leben verloren. Laut Bundesanwaltschaft und auch laut Zschäpe soll Böhnhardt der Täter gewesen sein. Warum der in diesem Fall allein gehandelt haben sollte, ist allerdings unklar. Dieser Raub steht in der Hauptverhandlung in München noch an.
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