Zwanzig Jahre ist es her, dass SPD-Kanzler Gerhard Schröder die strukturellen Probleme in der Tierhaltung lösen wollte. Auslöser damals war ebenfalls eine Seuche: BSE, der „Rinderwahn“. „Es wird sich etwas ändern, verkündete er. Und das tat es auch: Seit Schröders Versprechen hat sich der Umsatz der deutschen Schlacht- und Fleischverarbeitungsindustrie mehr als verdoppelt. Allein Tönnies machte im vergangenen Jahr 7,3 Milliarden Euro Umsatz – ein Rekordergebnis. Während zu Zeiten Schröders Fleisch noch importiert werden musste, ist Deutschland nun fünftgrößter Fleischexporteur der Welt, bei Schweinefleisch liegt es sogar auf Platz zwei. Die deutsche Fleischindustrie ist mittlerweile entkoppelt von ihrer eigentlichen Funktion, die Bevölkerung zu versorgen: 40 Prozent des Schweinefleischs werden exportiert. Darunter leiden auch die Tiere, denen in der Fleischindustrie routinemäßig Schmerz und Leid zugefügt wird, wie der Deutsche Ethikrat erst im Juni kritisierte.
Der Exportorientierung zum Opfer gefallen sind auch die Arbeitsbedingungen. Im gerade erst erschienenen Sammelband Das System Tönnies – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei der Initiative Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg berichten ehemalige Tönnies-Beschäftigte von unzähligen unbezahlten Überstunden und völlig überteuerten Unterbringungen. Möglich ist all dies durch ein Subunternehmersystem, über das die meist migrantischen Arbeitskräfte als Werkvertragsarbeiter*innen bei Tönnies arbeiten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schätzt, dass vier von fünf Beschäftigten in der Fleischindustrie bei Subunternehmen angestellt sind.
Nicht zuletzt belastet das Geschäft mit der Tötung und Verarbeitung von Tieren das Klima. Ein Fünftel aller Treibhausgasemissionen geht auf die weltweite Tierhaltung zurück, die damit zu den wichtigsten Verursachern der globalen Erwärmung zählt.
Auch das vor drei Jahren verabschiedete „Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“ führte kaum zu Verbesserungen für die Beschäftigten. Und nun? Nach öffentlichem Druck infolge diverser Corona-Ausbrüche in Fleischfabriken hat die Bundesregierung Ende Juli einen Gesetzentwurf zum Verbot von Werkverträgen in Schlachtbetrieben beschlossen. Tönnies hat derweil 15 neue Tochterfirmen gegründet („Tönnies Productions I – XV“) – möglicherweise um dadurch zukünftigen Regelungen ausweichen zu können, wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten befürchtet.
Man darf sich nicht länger mit der Bekämpfung von Symptomen zufriedengeben. Auch das sagte Kanzler Schröder damals während der BSE-Krise. Und damit hat er ausnahmsweise recht, denn eine auf Profit ausgerichtete Fleischindustrie wird immer nach Möglichkeiten suchen, politische Schranken zu umgehen. Wie bloß könnte die Politik es also schaffen, Einfluss auf die Fleischproduktion zu bekommen? Welches Mittel sieht das Grundgesetz bloß für Fälle vor, in denen Konzerne wie Tönnies für das Wohl der Allgemeinheit unter demokratische Kontrolle gestellt werden müssen? Da gibt es tatsächlich ein Instrument – zurzeit wird es in Berlin im Zusammenhang mit der Wohnungsknappheit diskutiert: Enteignung!
Die Rekommunalisierung der Fleischindustrie könnte sich an den kommunalen Schlachthöfen orientieren, die es noch vor Jahrzehnten überall in Westdeutschland gab. Sie fielen vor allem in den 1970er und 1980er Jahren Privatisierungen zum Opfer. In privaten Konzernen aber steht der Profit grundsätzlich über dem Allgemeininteresse. In Zeiten des Klimawandels, der Seuche und der Rückbesinnung auf das Gemeinwohl liegt die Lösung doch auf der Hand: Tönnies und Co. enteignen!
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