Topografie des Horrors

Flüchtlinge Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es zwischen Sahelzone und Golfregion nicht mehr so viele Konflikte. Ein Blick auf die Ursachen der derzeitigen Migrationsbewegungen
Ausgabe 35/2015
Topografie des Horrors

Illustration: der Freitag

Über 20 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Suche nach einem Refugium, das ihnen die Chance zum Überleben bietet. Umso mehr verdienen die Fluchtursachen Beachtung. Wer seine Heimat im Nahen Osten oder Nordafrika verlässt, will häufig Bürgerkriegen und dem dadurch ausgelösten ökonomischen Desaster entkommen. Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es zwischen Sahelzone und Golfregion diese Massierung militärischer Konflikte

Mali
Sezessionskrieg/Guerillakrieg

Konfliktparteien

2012 begann die vierte Rebellion der Tuareg, die als Nationalbewegung zur Befreiung des Azawad (MNLA) für einen Staat in Nordmali kämpfen. Zugleich sind in diesem Gebiet islamistische Verbände wie Al-Qaida im Maghreb und Ansar Dine aktiv. Von staatlicher Integrität kann keine Rede mehr sein – ein Grund dafür, dass die Konflikte auf Algerien und Niger übergreifen.

Ökonomie

In der Sahelzone existieren weite, von den Staaten nicht mehr kontrollierte Räume, die einer regionalen Konfliktökonomie aus organisierter Kriminalität und Clan-Macht ausgesetzt sind. Handelsrouten bleiben unterbrochen oder sind nicht mehr sicher.

Opfer

Seit 2012 starben etwa 3.000 Kombattanten und fast ebenso viele Zivilisten.

Externe Konfliktparteien

Frankreich intervenierte 2013 (Opération Serval), um einen Vormarsch der Islamisten auf Bamako zu verhindern. Innerhalb der EU-Militärmission EUTM sind französische Soldaten weiter präsent. Die Bundeswehr hat 180 Militärs nach Mali entsandt. Das Mandat gilt bis Mai 2016.

Algerien
Anti-Terror-Kampf/ethnischer Konflikt

Konfliktparteien

Die Armee steht im Süden Islamisten aus der Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (MUJAO) und Al-Qaida-Filialen gegenüber, die aus Mali und Libyen einsickern. Die Konflikte haben jedoch nicht die Intensität des Bürgerkriegs, der 1991 bis 2003 mit der Islamischen Heilsfront (FIS) geführt wurde.
Seit Juli ist der Zwist zwischen Berbern und Arabern im Raum Ghardaia in eine bewaffnete Konfrontation übergegangen.

Ökonomie

Zwar ist das Pro-Kopf-Einkommen von 4.500 Dollar/Jahr für die Region relativ hoch, doch versuchen islamische Fundamentalisten immer wieder Öl- und Gasfelder zu erobern. Das Chaos in Libyen macht sich bemerkbar.

Opfer

Im Bürgerkrieg starben 100.000 bis 150.000 Menschen, ein kollektives Trauma, das bis heute nachwirkt.

Externe Einflüsse

Die größte Gefahr droht Südalgerien mit einem Übergreifen jener Konflikte, die derzeit den Norden Malis heimsuchen.

Nigeria
Guerillakrieg/ethnische Konflikte

Konfliktparteien

Nicht nur von der islamistischen Gruppe Boko Haram im Norden geht Gewalt aus. Auch im Süden und Südosten gibt es mit der Niger Delta People’s Volunteer Force, dem South-South Liberation Movement wie den Biafra-Separatisten militante Bewegungen, die für Mord und Vertreibung verantwortlich sind.

Ökonomie

Je unsicherer der Norden, desto stärker die Binnenwanderung in den Süden. Die von der Ölausfuhr abhängige Ökonomie wächst zwar, doch fehlt es an Potenzial für Entwicklungshilfe in den von Boko Haram unterwanderten Regionen Kano, Yobe, Bauchi und Gwoza.

Opfer

Die Regierung geht von 13.000 Menschen aus, die seit 2010 durch Boko-Haram-Terror oder bei militärischen Gegenmaßnahmen ums Leben kamen. UNICEF zufolge sind 1,2 Millionen Nigerianer unter 16 Jahren auf der Flucht.

Externe Einflüsse

Boko Haram bekennt sich zu den afghanischen Taliban und hält Kontakte zu Al-Qaida in Nordmali. Nigeria kooperiert im Anti-Terror-Kampf mit Niger, Kamerun und anderen Staaten der Afrikanischen Union (AU).

Libyen
Bürgerkrieg

Konfliktparteien

Seit 2014 ringen drei Parteien um die Macht: die islamistische Front „Morgenröte“ (sie beherrscht Tripolis), die weltliche Allianz „Würde“, die eine im Westen anerkannte Regierung in Tobruk stellt, und die libysche Filiale des IS. Dazu kommen Warlords und Privatarmeen auf Stammesbasis.

Ökonomie

Eine UN-Studie vom Juni 2015 stuft das Land als Failed State ein und warnt vor dem ökonomischen Kollaps. Ölausfuhren gibt es größtenteils nur noch auf Clan-Basis.

Opfer

Der Aufstand gegen den früheren Staatschef Gaddafi und der Bürgerkrieg danach forderten etwa 70.000 Todesopfer, mehr als 500.000 Menschen wurden aus ihren Siedlungsräumen vertrieben.

Externe Einflüsse

Die NATO intervenierte 2011, um einen regime change zu beschleunigen, doch zog sich der Westen komplett zurück, als danach die Lage aus dem Ruder lief. Seit Juni 2015 gibt es Verhandlungen einer 5+5-Gruppe (UN-Vetomächte plus Deutschland, Italien, Spanien, EU und UN) mit den Blöcken „Morgenröte“ und „Würde“ über eine Einheitsregierung.

Ägypten
Bewaffneter Konflikt

Konfliktparteien

Eine dschihadistische Guerilla, zumeist radikalisierte Beduinen, attackiert seit dem Putsch gegen Präsident Mursi (Juli 2013) verstärkt Polizei- und Militärbasen auf dem Sinai. Armee-Offensiven haben den Rebellen bisher wenig anhaben können. Oft werden ganze Dörfer zum Ziel von Strafaktionen in einer Region, die unter Militärrecht steht.

Ökonomie

Seit dem Sturz von Staatschef Mubarak 2011 haben politische Instabilität und Terrorgefahr die Tourismus-Einnahmen halbiert. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei zehn, tatsächlich bei 20 bis 25 Prozent.

Opfer

Islamistischer Terror und staatliche Gewalt haben seit 2011 mehr als 2.500 Menschenleben gefordert. Hunderte Ägypter starben als Anhänger der Muslimbrüder allein bei Straßenkämpfen nach dem Mursi-Sturz im Juli 2013.

Externe Einflüsse

Das fragile Umfeld (Libyen, Gaza, Irak, Syrien) hat für die USA den strategischen Partner Ägypten wieder aufgewertet. Präsident al-Sisi braucht US-Militär- und -Wirtschaftshilfe.

Israel/Gaza
Besatzungs- und Territorialkonflikt

Konfliktparteien

Die Fronten zwischen der Regierung Netanjahu und den palästinensischen Autoritäten sind verhärtet wie zuletzt in den 80er Jahren. Ein extensiver Siedlungsbau auf 42 Prozent des Westbank-Territoriums hat einem Palästinenserstaat den Boden entzogen. Der Gazastreifen – von Israel abgeriegelt – bleibt unter Hamas-Führung ein potenzieller Kriegsschauplatz.

Ökonomie

Der Gaza-Wiederaufbau ist unterbrochen, da dem Palästinenserhilfswerk (UNRWA) die Mittel fehlen. Zur Verfügung stehen lediglich 135 Millionen Dollar statt der auf einer internationalen Geberkonferenz in Kairo Ende 2014 zugesagten 5,4 Milliarden.

Opfer

Beim Gaza-Krieg Mitte 2014 gab es laut Hamas 1.865 Todesopfer auf palästinensischer Seite, davon gut die Hälfte Zivilisten. Israel sprach von 25 gefallenen Soldaten und drei durch Raketenbeschuss aus Gaza getöteten Zivilisten.

Externe Einflüsse

Durch die Obama-Administration ist mit keiner neuen Nahost-Initiative mehr zu rechnen. Ein palästinensischer Staat wurde inzwischen von 136 Ländern diplomatisch anerkannt.

Syrien
Bürgerkrieg

Konfliktparteien

Der im März 2011 ausgebrochene Aufstand gegen das Baath-System und den säkularen Staat mündete bald in einen Bürgerkrieg, bei dem sich zunächst die Regierungsarmee und sunnitische Freischärler bekämpften. Seit 2014 dominiert der Islamische Staat (IS) das Anti-Assad-Lager, beherrscht ein Drittel des Staatsgebietes, bedroht die kurdische Autonomie im Norden und will ein syrisches Kalifat.

Ökonomie

Bis auf Damaskus sind fast alle Großstädte (Aleppo, Homs, Hama) zerstört. Die Exporte an syrischen Waren sind seit 2010 auf ein Viertel des damaligen Wertes zurückgegangen.

Opfer

Bis März 2015 gab es laut UN 220.000 Todesopfer. Bei einer Gesamtbevölkerung von 23 Millionen sind laut UN-Flüchtlingswerk 6,5 Millionen Syrer Vertriebene im eigenen Land und 2,9 Millionen ins Ausland geflohen.

Externe Einflüsse

Die USA haben 2014 Syrien in ihre Anti-Terror-Operationen einbezogen, erzielen aber mit Luftangriffen wenig Wirkung. Russland und Iran stützen weiter die Assad-Regierung, fast die gesamte Golfregion deren Gegner.

Irak
Bürgerkrieg

Konfliktparteien

Mit der Einnahme von Mossul im Juni 2014 begann ein Vormarsch des Islamischen Staates (IS), der bis heute nicht gestoppt ist. Iraks Nationalarmee schützt den Großraum Bagdad und einige Provinzen. Landesweit ist sie auf die US-Luftwaffe, radikale Schiiten-Milizen wie kurdische Peschmerga-Einheiten angewiesen.

Ökonomie

Solange Bagdad und die Hafenmetropole Basra im Süden nicht vom Bürgerkrieg erfasst werden, verhindert das einen Wirtschaftskollaps. Es leben augenblicklich 25 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und von weniger als 2,50 Dollar/Tag.

Opfer

Im Vorjahr gab es nach Regierungsangaben etwa 17.200 zivile Opfer, 2015 bislang 10.400. Die Zahl der Binnenflüchtlinge liegt bei 1,1 Millionen Menschen.

Externe Einflüsse

Die US-Regierung lässt seit 2014 Luft- und Drohnenangriffe gegen IS-Stellungen fliegen, schließt aber Bodentruppen bis auf den Einsatz von Spezialeinheiten (1.000 Mann) aus. Der Iran hat dementiert, Elitekämpfer der Al-Quds-Brigaden in den Irak geschickt zu haben, um dort die Regierungsarmee zu verstärken.

Südsudan
Ressourcenkrieg/ethnischer Konflikt

Konfliktparteien

Präsident Salva Kiir und Ex-Vizepräsident Riek Machar kämpfen seit knapp zwei Jahren mit ihnen ergebenen Militäreinheiten um die Vormacht in dem erst Mitte 2011 gegründeten Staat. Da die Rivalen aus den Volksgruppen der Dinka beziehungsweise. Nuer kommen, wird auch von einem Stammeskrieg gesprochen.

Ökonomie

Der Südsudan gehört zu den 20 ärmsten Ländern weltweit. Umso schlimmer, dass der jetzige Konflikt zu Lasten der Ölausfuhren geht, da beim Griff nach Ressourcen besonders die Ölprovinz Unity umkämpft ist.

Opfer

3.000 bis 4.000 Menschen sollen bisher ums Leben gekommen sein. Verlässlich ist indes nur die Zahl der UN-Flüchtlingshilfe, die von 65.000 Binnenflüchtlingen in Schutzcamps ausgeht.

Externe Einflüsse

Einen unter UN-Vermittlung in Addis Abeba ausgehandelten Friedensvertrag wollte Präsident Kiir bis zuletzt nicht unterschreiben. Nachdem sich die USA bis 2011 ausdrücklich für die Sezession des Südens vom sudanesischen Gesamtstaat eingesetzt hatten, wollen sie nun Sanktionen verhängen, gibt es keinen Friedensschluss zwischen Kiir und Machar.

Jemen
Bürgerkrieg

Konfliktparteien

„Sturm der Entschlossenheit“ nennen Saudi-Arabien und seine Alliierten ihre seit März 2015 laufende Intervention gegen die Huthi-Rebellen. Die halten den Norden und eine von ihnen gebildete Übergangsregierung, müssen sich aber auch sunnitischer Stammes- und Al-Qaida-Kämpfer erwehren.

Ökonomie

Nach dem Konflikt zwischen dem islamischen Norden und dem säkularen Süden 1994 ist das der nächste Bürgerkrieg in nur 20 Jahren. Weil die Bevölkerung nicht mehr versorgt werden kann, hat die UNO die höchste Notstandsstufe für den Jemen ausgerufen.

Opfer

Seit März kamen über 4.000 Menschen ums Leben, mehr als die Hälfte Frauen und Kinder, besagen die Zahlen des UNHCR.

Externe Einflüsse

Die saudische Intervention wird von den USA, Frankreich und Großbritannien logistisch –von Marokko, dem Sudan, Ägypten, Katar, Bahrain und Kuwait militärisch unterstützt.

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