Tor zur Hölle

Gaza Nach dem Angriff auf eine UN-Schule und einen UN-Konvoi ist endgültig klar, was die israelische Versicherung wert ist, man tue alles um zivile Opfer zu vermeiden

40 Zivilisten - Flüchtlinge - wurden Anfang der Woche in einer Schule der Vereinten Nationen im Gazastreifen getötet, drei weitere starben in einer zweiten UN-Schule, einen Tag später, am 8. Januar, wurde der Fahrer eines UN-Trucks mit Versorgungsgütern getroffen, für die es angeblich einen zivilen Korridor geben sollte. Nicht schlecht für eine einzige 72-Stunden-Schicht in Gaza. Wieder einmal hat Israel den Palästinensern das Tor zur Hölle aufgerissen und sich seiner Armee bedient, die an die "Reinheit der Waffen" glaubt. Warum sollten wir uns wundern?

Oder haben wir die 17.500 Toten der israelischen Libanon-Invasion im Sommer, 1982, schon vergessen? Fast alle waren Zivilisten, Frauen und Kinder. Oder denken wir an die über 1.000 palästinensischen Zivilisten, die bei den Massakern in in den Lagern Sabra und Schatila bei Beirut massakriert wurden. 2006 wurden in einer UN-Basis in Kana 106 libanesische Flüchtlinge getötet - mehr als die Hälfte waren Kinder. Oder denken wir an die Menschen, die aus dem libanesischen Dorf Marwahin flohen, als die Israelis ihnen befohlen hatten, ihre Häuser zu verlassen - um sie anschließend vom Helikopter aus zu beschießen. Auch das geschah 2006 im Libanonkrieg.

Vermeidet man so zivile Opfer?

Ausgesprochen erstaunlich, dass so viele westliche Führer - Präsidenten und Premierminister - und ich fürchte auch viele Journalisten, der alten Lüge aufsitzen, Israel gäbe sich große Mühe, zivile Opfer zu vermeiden. Wieder einmal erklärte uns ein israelischer Botschafter: "Israel tut alles, was möglich ist, um zivile Opfer zu vermeiden". Er sagte es wenige Stunden vor dem Massaker an der UN-Schule in Gaza. Jeder Präsident und jeder Kanzler, der diese Lüge wiederholte - sie ist eine Entschuldigung, um einen Waffenstillstand zu vermeiden -, hat das Blut des Massakers der letzten Nacht an seinen Händen. Hätte George Bush 48 Stunden zuvor den Mut aufgebracht, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern, die 40 Zivilisten aus dieser Schule – alte Leute, Frauen und Kinder – wären noch am Leben.

Was hier passiert, ist mehr als nur beschämend. Es ist eine Schande. Ist der Begriff „Kriegsverbrechen“ zu hoch gegriffen? Hätte die Hamas dieses Gräuel verübt, würden wir von Kriegsverbrechen sprechen. Ja, es war ein Kriegsverbrechen. Nachdem ich über so viele Massenmorde durch die Armeen des Nahen Ostens berichtet habe - begangen von syrischen, jordanischen, irakischen, iranischen und israelischen Truppen - sollte ich eigentlich ein Zyniker sein. Israel behauptet, es kämpfe unseren Kampf gegen den "internationalen Terror". Die Israelis behaupten, sie kämpften in Gaza für uns, für die westlichen Ideale, für unsere Sicherheit und unseren Schutz - und sie kämpften nach unseren Standards. Daher sind wir Komplizen des brutalen Gemetzels, das über Gaza gekommen ist.

Journalisten, die Israels Regierung kritisieren, werden als Antisemiten abgestempelt

Ich habe über Rechtfertigungen berichtet, die die israelische Armee bei Gräueln dieser Art in der Vergangenheit anführte. In den nächsten Stunden könnten diese Entschuldigungen erneut hervorgekramt werden. Daher nenne ich schon jetzt einige: Die Palästinenser würden ihre eigenen Flüchtlinge töten, wird es heißen; die Palästinenser würden Tote ausgraben und in die Ruinen legen; die Schuld liege letztlich bei den Palästinensern, weil sie eine bewaffnete Gruppe unterstützten; bewaffnete Palästinenser würden bewusst Unbeteiligte als Deckung missbrauchen. Das Massaker von Sabra und Schatila wurde von Israels rechtsgerichteten Alliierten - den Falangisten - ausgeführt, während israelische Truppen 48 Stunden lang zusahen und nichts unternahmen. Das wurde selbst durch ein israelisches Untersuchungsgremium (die Kahane-Kommission) festgestellt. Als man Israel die Schuld gab, beschuldigte die damalige Regierung unter Premier Begin ihrerseits die Welt, sie werde in unverhältnismäßiger Weise geschmäht. Über all diese Gräueltaten habe ich berichtet. Ich habe sie alle untersucht und mit den Überlebenden gesprochen. Mehrere meiner Kollegen taten das Gleiche. Unser Schicksal ist es, mit dem schlimmsten aller Etiketten belegt zu werden: Wir wurden beschuldigt, Antisemiten zu sein.

Das Folgende schreibe ich ohne den geringsten Zweifel, dass es so kommen wird: Wir werden (im Falle Gaza) alle diese skandalösen Konstrukte erneut hören. Sie werden lügen, die Hamas sei an allem schuld. Es gibt weiß Gott wirklich genug Dinge, derer man Hamas beschuldigen könnte, aber nicht dieser Verbrechen. Wir werden die Lüge von den aus den Friedhöfen ausgegrabenen Leichen zu hören bekommen und mit großer Sicherheit die Lüge, dass Hamas in der bombardierten UN-Schule war. Und ziemlich sicher wird auch wieder die Antisemitismus-Lüge auf den Tisch kommen.

Was hat das mit uns zu tun?

Unsere Führer werden unruhig hin und her rutschen und die Welt daran gemahnen, dass Hamas als erste die Waffenruhe gebrochen hätte. Stimmt nicht. Israel hat ihn am 4. November gebrochen, als es Gaza bombardierte und dabei sechs Palästinenser tötete sowie am 17. November, als bei einem weiteren israelischen Bombardement vier Palästinenser starben.

Gewiss, Israel hat das Recht auf Sicherheit. 20 getötete Israelis in den letzten zehn Jahren ist eine traurige Zahl. Aber 700 getötete Palästinenser in nur einer Woche und Tausende getötete Palästinenser seit 1948 - das ist eine ganz andere Dimension.

Das alles erinnert nicht an das „normale Blutvergießen“ in dieser Region, vielmehr an die Gräuel der Balkankriege in den Neunzigern. Und sollte ein Araber einmal seinem Zorn freien Lauf lassen und seiner blinden, aufrührerischen Wut gegen den Westen in die Tat umsetzen, werden wir sagen: "Was hat das mit uns zu tun? Nichts. Warum hassen sie uns?"

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