Tränen und Träume

Ostfernsehen Was man in den neuen EU-Ländern vom Dokumentarfilm hält

"Sunrise in the east" heißt es für den osteuropäischen Dokumentarfilm. Die jungen Filmemacher der neuen EU-Beitrittsländer votieren offen für freie Formen, beißende Ironie und Gesellschaftskritik. Sie lassen sich keine modisch schnellen Schnitte aufzwingen, opponieren gegen stumpfsinnige Magazinierung, zunehmenden Soap-Charakter, angepasstes Kommerzfernsehen. Nach jahrzehntelanger Gängelung durch die Zensur reagieren die Filmer aus den postkommunistischen Ländern sensibel auf Eingriffe in den Produktionsprozess im Vorfeld wie in westlichen Fernsehredaktionen bisweilen üblich. Damit gibt es eine Chance für westliche Dokumentarfilmer und ein anspruchsvolles Fernsehpublikum sich von einer osteuropäischen Bewegung inspirieren zu lassen.

Der Dokumentarfilm aus Lettland, Tschechien, Slowenien, Polen, Ungarn und Serbien, dem sich kürzlich eine Tagung im Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms widmete, bildet Realität scharfzüngig und kommerzkritisch ab. Und das trotz Geldmangels, das staatliche Czech-TV etwa hat für 2005 gerade einmal acht eigenproduzierte Dokumentarfilme geplant. Filip Remunda und Vit Klusak kleckern dennoch nicht, sie klotzen. Die Liste der Sponsoren ihres Films Cesky Sen (Tschechischer Traum) reicht vom tschechischen Kulturministerium bis zu Hugo Boss. Cesky Sen ist eine bitterböse Groteske auf blauäugiges Stolpern in die kommerzielle Freiheit der Westens. Vor gut einem Jahr starteten Remunda und Klusak eine groß angelegte Werbekampagne. Ein neuer Supermarkt "mit echten Schnäppchen" wurde flächendeckend beworben. Den Effekt hielten die Filmer genüsslich mit der Kamera fest. Am Tag der Eröffnung rannten 2000 Leute über eine grüne Wiese zum versprochenen "Hypermarket", der sich als Enttäuschung entpuppte. Der Supermarkt war ein Fake, eine riesige Pappfassade auf der Wiese. Die Autoren zeigten beispielhaft, wie marktwirtschaftliche Verführung funktioniert. Cesky Sen wird bald im deutschen Fernsehen zu sehen sein, das ZDF hat den Film gekauft.

Remunda ist kein gefälliger Typ. Er bevorzugt in seinen Filmen einen generalisierenden und essayistischen Diskurs, hält wenig von Kompromissen und den ästhetischen Vorgaben für Fernsehformate. Am tschechischen Fernsehen kritisiert er, dass es "keine transparenten Entscheidungsstrukturen, keine demokratischen Standards" gibt. Entschieden werde hinter verschlossenen Türen, Redakteure diskutierten im Verborgenen, nichts dringe aus dem Apparat nach außen. Das ZDF-Programm empfindet er als zu emotionalisiert und personalisiert. Remunda denkt über alternative Formen wie Videojournalismus nach und darüber, den Dokumentarfilm im Kino wiederzubeleben. Ähnlich diskutieren bereits westliche Filmemacher.

Die lettische Filmemacherin Antra Cilinska interessiert sich ebenfalls für gesellschaftspolitische Prozesse. Sie hat einen spannenden Film über die jugendlichen Punks ihrer Heimat nach den Umbruch vor zehn Jahren gedreht. Cilinska ist den Protagonisten von einst gefolgt, zeigt, was aus ihnen geworden ist. Ihren Film Ist es leicht ... zu sein? Zehn Jahre später hat sie sich "glücklicher" vorgestellt: "Alle Ideale sind passé." Einst rebellische Interviewpartner seien abgestumpft, oft mit dem bloßem Überleben beschäftigt. Über ihre Arbeitsbedingungen spricht Cilinska eher gelassen. Wie westliche Autoren sei auch sie ständig auf Jagd nach Geldern aus europäischen Fonds. In lettischen Gefilden gehe es zu wie auf einem orientalischem Basar. Fordert man von den Kommissionen, die über die staatlichen Töpfe wachen, 20 000 Euro, erhalte man vielleicht 6000 Euro, fordert man 7000 Euro, gibt es 3000. Ein harter Job.

Deswegen haben sich die lettischen Dokumentarfilmer gewerkschaftlich in der "Filmmakers Union" zusammengeschlossen. Welchen schweren Stand der Verband in seinen Verhandlungen zeigt folgende Anekdote. Der lettische Premierminister Einars Repse hatte die Minister im Parlament gefragt: "Habt ihr schon einmal einen Lettland-Dokumentarfilm gesehen? - Nein? Dann brauchen wir ihn auch nicht." Die Leiterin der "Filmmakers Union", Ieva Romanova, argumentierte vergebens: Wichtig sei es, auf internationalen Festivals zu punkten! Prestigegewinne für das Land! Als letztes Mittel, den Etat nicht gänzlich einzufrieren, überzeugte: ein Tränenausbruch. Was lehrt uns das : Manchmal lohnt es sich, die Tränen, die man etwas Verschwundenem hinterher weinen würde, schon vorher zu vergießen.


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