Selten unternimmt der Kunstbetrieb derart ausgedehnte Klassenausflüge wie in diesem Sommer. Venedig, Basel, Kassel, Münster - und überall soll es nicht bloß um gute Laune, sondern ein konkretes Lernziel gehen. Die Gretchenfrage dabei: Ist das Gezeigte gesellschaftlich relevant? Das nämlich ist überall die ebenso axiomatisch wie nebulös gefasste Bestimmung: Kunst muss politisch sein. Sonst kann man´s gleich lassen.
Kaum jemand aber spricht davon, dass es doch noch wenige Tage vor der ersten Biennalebegehung eine Darstellung ganz offensichtlich politischer Kunst gab. Die stand zwar auf keinem Ausstellungskalender, fand auch nicht in Venedig statt, sondern bloß in Rostock und dem abgeriegelten Heiligendamm, war aber in schönster Mustergült
rgültigkeit das, was im Kuratorenjargon als Intervention im öffentlichen Raum bezeichnet wird. Nackter Block und Clownsarmee - das waren Themen für Tagesschau, Bild und Politkommentar, kaum aber fürs Feuilleton.Dabei wird der aktuelle Stand alternativer Protestkultur nur im Rückblick auf die Kunst- und Geistesgeschichte verständlich. Die Clownsarmee wäre ohne Dada, Surrealismus und die Situationisten heute undenkbar. So hatte André Breton schon in einem seiner surrealistischen Manifeste von 1925 die Marschroute vorgegeben: "Die authentische Kunst von heute geht Hand in Hand mit revolutionärer gesellschaftlicher Aktivität; beide führen zur Verwirrung und Zerstörung des Kapitalismus." Walter Benjamin befand in seiner Geschichtsphilosophie, dass jenem Ausnahmezustand, den die Staatsmacht zur Beherrschung der dadurch entrechteten Untertanen verordnet, nur durch die Herstellung eines tatsächlichen Ausnahmezustandes von unten begegnet werden kann. Verwirrung, Verstörung, Sabotage - das war aber nicht durch Manifeste und Philosophie allein zu erreichen. Wo aus Denken Handeln resultierte, musste der Protest auf die Straße, um dort unmittelbar anzugreifen. Direct Action: So hieß 1920 ein Buch des kommunistischen Journalisten William Mellor, der die Arbeiter mit möglichen Formen des Aufstandes vertraut machen wollte. Und so nannte sich auch eine einflussreiche britische Aktivistenbewegung, die später in einem unübersichtlichen Beziehungsgeflecht zu vielen ähnlich operierenden oder aus ihr hervorgegangenen Gruppierungen stehen sollte.Ein typisches Beispiel dafür ist die Anfang der neunziger Jahre entstandene Bewegung Reclaim the streets. Sie hatte sich die Verteidigung des öffentlichen Raums auf die Fahnen geschrieben und organisierte ihren Protest überall dort, wo Wohnraum, Plätze und Parks durch den Bau neuer Straßen verloren zu gehen drohten.Besonders prominent wurde dieses Konzept beim "M11 Link Road Protest" sichtbar, einer Aktion, die sich 1994 gegen den Bau einer Straße richtete, die die Ostlondoner Stadtteile Wanstead und Hackney verbinden sollte. 350 Häuser sollten abgerissen, mehrere tausend Menschen umgesiedelt und eines der letzten verbliebenen Waldstücke in der Innenstadt zerstört werden - um Autofahrern durch die neue Route nicht mehr als sechs Minuten Fahrzeit zu ersparen. Das Kalkül der Aktivisten folgte einer simplen Idee und machte ihren Protest genau dadurch wirksam, dass er die Sprache seiner Gegner sprach: Die sowieso schon immensen Baukosten von 240 Millionen Pfund sollten durch Behinderung der Bauarbeiten und Verursachung von Schäden weiter in die Höhe getrieben werden. "They know the cost of all things", lautete eine Parole, die Aktivisten an bedrohte Kastanien am Rand der Straße geheftet hatten. Als nun unerschrockene Leute auf die riesigen Baukräne kletterten, um sich in luftiger Höhe mit Fahrradketten anzuschließen, produzierten sie zudem Motive, die um die Welt geschickt wurden. Häuser wurden vor dem Abriss mit Erde, Autoreifen, zertrümmerten Möbeln und anderem Schrott aufgefüllt, so dass sie nicht mit der Abrissbirne eingerissen, sondern durch die offenen Dächer von oben ausgehoben werden mussten. Erschwerend kam die passive Militärstrategie des menschlichen Schutzschilds hinzu, Aktivisten hatten sich in eigens ausgehobenen Bunkern verschanzt. Geschätzte Summe des durch den "M11 Link Road Protest" angerichteten Schadens: zwei Millionen Pfund.Knapp zwei Jahre später, am 15. Juli 1996, fand aber auf einem anderen innerstädtischen Londoner Autobahnstück, der M41, eine Aktion statt, die alle vorangegangenen Protestveranstaltungen in den Schatten stellte. "Eine Gesellschaft, die jedes Abenteuer abgeschafft hat, macht ihre eigene Abschaffung zum einzig möglichen Abenteuer", lautete die Parole, zu der sich an diesem Tag 10.000 Menschen wie aus heiterem Himmel auf der Straße versammelt hatten, um zu tanzen, zu reden und zu essen. Mitten auf der sechsspurigen Fahrbahn standen wie Figuren eines Karnevalszuges zwei jeweils zehn Meter hohe Skulpturen. Ein Soundsystem pumpte ohrenbetäubenden Techno über das Areal. Wovon die Polizei in unmittelbarer Nähe keinen Schimmer hatte, war die eigentliche Bestimmung der überlebensgroßen Karnevalsfiguren: In deren Innerem waren Aktivisten mit Presslufthämmern am Werk, rissen unbemerkt den noch jungen Asphalt auf und pflanzten quer zur Fahrtrichtung eine Kette kleiner Bäumchen. Dieselben Bäumchen, die dieselben Leute entlang der Trasse des M11 ausgegraben und damit vor der Entsorgung gerettet hatten. Erst als die Party sich aufgelöst hatte, wurde das ganze Resultat der Protestaktion sichtbar. Der Straßenabschnitt musste gesperrt werden, um die Bäumchen auszureißen und die Fahrbahn neu zu asphaltieren. Wieder wurden Bilder produziert, nach denen Fernsehanstalten gieren. Der M11-Aktivist John Jordan fasste die Funktionsweise solcher Aktionen später folgendermaßen zusammen: "Die Verspieltheit der direct action verspricht eine alternative Realität und macht zugleich das Spiel real. Es schöpft Bilder aus kindlichen Wahrnehmungsmustern und schleudert sie Politikern und anderen Entscheidungsträgern direkt ins Gesicht. Der Staat weiß nie, wo diese Form des Spiels beginnt und wo sie endet. Es sickert von der Baustelle direkt in die Realität des Fernsehens ein und vom Büro des Firmendirektors direkt auf das Dach des Transportministers. Das Spiel ist unstet, schlüpfrig, porös und riskant, und es sorgt dafür, dass die Autorität der Machthaber erodiert."Theatralisch, rituell und repräsentativ müssen solche Aktionen sein, wenn sie funktionieren sollen, und wenn auch beim G 8-Gipfel nichts vergleichbar Spektakuläres zu sehen war wie vor zehn Jahren in London, trug der Auftritt der Clownsarmee dort die gleiche Handschrift. Und zwar so offensichtlich, dass man kaum wissen muss, dass die britische "Clandestine insurgent rebel clown army" (Circa), die erstmals bei einem Staatsbesuch von George W. Bush im Jahr 2003 in Erscheinung trat, dem Kontext der direct action entstammt. Die Clowns berufen sich auf den Karnevalstheoretiker Bachtin, der das Gelächter zum Erkenntnismedium der Weltgeschichte erklärt hat, und tun das, was Hofnarren schon immer durften: Sie halten der Macht einen Spiegel vor, der noch den waffenstrotzendsten Herrschaftsgestus lächerlich erscheinen lässt. Warum in die Armee eintreten, fragt auch der deutsche Ableger der Clownsarmee, wo ihr doch auch zu uns kommen könnt? Und wenn in Heiligendamm vereinzelte Grüppchen in Camouflageklamotten und Clownsmasken in militärischem Stechschritt auf die Phalanx vollgepanzerter Polizisten zumarschieren, an dieser abprallen, kehrt machen und an anderer Stelle, wo sich behelmte Staatsdiener hastig neu formieren müssen, einen neuen Anlauf nehmen - tritt der gewünschte Effekt der theatralisierten Aktion ein. In dem Maße, wie die Clowns sich selbst als Armee darstellen, zerfließt auf der Bühne, zu der die Bannmeile um den Zaun von Heiligendamm in diesem Moment wird, die Grenze zwischen der tatsächlich militarisierten Polizei und ihrer Fratze, den Clowns. "Wo sind die Clowns?" rufen die hysterisch aufgekratzten Aktionisten immer wieder, "hat jemand die anderen Clowns gesehen?" Und sie fordern damit nur eine Antwort: "Guckt mal, da sind sie doch, es sind ganz viele. Sie tragen Helme, Plastikschilde, schusssichere Westen, Gummiknüppel und Taser. Sie sehen damit sehr lustig aus." Die Provokation, die von diesem Verzicht auf manifeste Gewalt zugunsten einer Gewalt der Bilder ausgeht, war so stark, dass die Pressestelle der Polizei mit einer besonders hilflosen Falschmeldung herausrückte. In den Wasserpistolen, mit denen einige Staatsdiener von Clowns bespritzt worden waren, sei eine ätzende, vermutlich hochgefährliche Flüssigkeit gewesen, die Beamten daher ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Clownsarmee - also doch nur eine besonders perfide Fraktion gewalttätiger Autonomer? Als schließlich publik wurde, dass nur Seifenwasser verspritzt worden war, lag offen zu Tage, wie gründlich die Aktion gelungen war. Die Polizei hatte sich freiwillig als Mitspieler einer theatralischen Farce verdingt und den ihr zugewiesenen Part mit Bravour zur Aufführung gebracht.Mit einer ähnlichen Strategie wurde in Rostock übrigens Bild in ein Protestmedium verwandelt. Es zeigte sich nämlich, dass die bereits bodenlos scheinende Hetze auf vermeintlich lebensgefährliche Chaoten im Schwarzen Block durch einen viel bodenloseren Antrieb noch locker getoppt werden konnte: Blanke Geilheit auf nacktes Fleisch. "Busen-Block statt schwarzer Block. Nippel statt Knüppel - was sagt die Polizei?" Solche Slogans verwandeln sich dem Ansinnen der Abgebildeten kongenial an. Und sorgen dafür, dass all diese Aktionen die Ausstellung Art goes Heiligendamm, die zeitgleich in Rostock gezeigt wurde, spielend übertrafen.Insbesondere unter dem Aspekt der Gretchenfrage. Die Antwort lautet: Das ist politische Kunst. Auch deshalb, weil sie auf zweierlei verzichtet, den Museumsraum - sei er noch so provisorisch - und den Markt.
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