Traum und Dilemma

Palästina Israels Selbstwahrnehmung bleibt die einer Vertreibungsgesellschaft
Ausgabe 27/2020
Traum und Dilemma

Karte: der Freitag

Vor mehr als 30 Jahren schlug ich vor, dass Israel die 1967 besetzten Gebiete annektiert und allen Bürgern, die so unter seine Regierung fallen, die gleichen Rechte gibt. Das tat ich aus drei Überlegungen heraus: Das israelische Vorgehen zeugte von einem stetig zunehmenden Hunger auf Gebietszuwachs. Zugleich blendete das israelische Denken aus, dass die Palästinenser als indigene Bevölkerung mit nationalen und historischen Rechten einzustufen sind. Es war daher davon auszugehen, dass die Palästinenser als nationale Einheit auf keinen fairen Deal hoffen konnten, sollte es zu einem Vertrag mit Israel kommen. Als drittes Moment war zu beachten: Bis 2020 würden sich die Palästinenser etwa zur Hälfte aus der Bevölkerung in Israel und den besetzen Gebieten zusammensetzen. Denkbar war eine lange, auf Menschenrechten basierende Auseinandersetzung, bei der beide Parteien letztlich das Land auf faire Weise teilen könnten.

Die Entwicklung der letzten 30 Jahre hat meine Einschätzung bestätigt, auch wenn mein Vorschlag einst von Israelis wie Palästinensern, aus unterschiedlichen Gründen, abgelehnt wurde. Wir haben es mit demselben Dilemma zu tun: Israels Unvermögen, die Palästinenser nicht als besiegte Partei in Auflösung zu behandeln, verhindert die Erwägung eines fairen Teilungsabkommens. Die Palästinenser ihrerseits merken allmählich, welchen Deal die andere Seite für sie vorgesehen hat.

Abkehr vom Nationalen?

Sie stehen vor der Entscheidung, ob sie den Traum von einem unabhängigen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt weiterhin verfolgen oder sich damit abfinden sollen, von dem System, das sie regiert, geschluckt zu werden. Es bliebe die Hoffnung, dass sich dieses System von innen heraus verändert.

Aber vielleicht wird auch ein Mittelweg ersonnen, der das Verhältnis von Israelis und Palästinensern in einem nicht eindeutigen Zustand belässt und den Palästinensern genug Raum lässt, den Traum von einer anderen Wirklichkeit zu erhalten. Das könnte durch eine international gestützte, dem Oslo-Abkommen von 1993 ähnliche Einigung passieren. Möglich ist auch, dass Israel einseitige Schritte unternimmt, inklusive der Auflösung der Autonomiebehörde. Was auch immer geschieht – angesichts des bestehenden Ungleichgewichts, der beschränkten Selbstbestimmung für eine palästinensische Bevölkerung auf engem Gebiet, wird langfristig stets die gleiche Kalamität reproduziert. Insofern wäre zu fragen, ob politische Rechte für alle Palästinenser in einem nicht nationalen Staat die vernünftigere Option sind.

Um zum Anfang zurückzukommen: Es gibt diesen Konflikt, weil Israels Selbstwahrnehmung von Anfang die einer „Vertreibungsgesellschaft“ war. Es galt nicht nur Gebiete zu besitzen, sondern auch Geschichte. Die Demografie wie auch die Topografie mussten verändert werden, damit sie zu einer Erzählung passten, die zu einer Hälfte in einer legendären Vergangenheit und zur anderen in einer selbstgerechten Zukunft wurzelt. Solange es dabei bleibt, ist eine Annäherung an die Palästinenser unmöglich.

Sari Nusseibeh ist ein palästinensischer Philosoph an der al-Quds-Universität in Jerusalem

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Übersetzung: Carola Torti

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