Europawahlen Die Europawahlen 2009 zeitigten einen Rechtsruck auf dem ganzen Kontinent. Am schlimmsten sieht es aber nach dem vergangenen Sonntag in Ungarn aus
Als stärkste "Partei" in der Republik Ungarn erwiesen sich diejenigen 64 Prozent der Wahlberechtigten, welche am 7. Juni 2009 den Urnen ferngeblieben waren. Dadurch überließen sie das Terrain jenen 36 Prozent, die über einen klaren politischen Willen verfügten und auch bereit war, diesem in dem nächstliegenden Wahllokal Ausdruck zu verleihen.
Als Ergebnis errang die rechtskonservative Bürgerliche Partei Fidesz 56,37 Prozent der Stimmen und damit 14 von den insgesamt 22 ungarischen EU-Mandaten. Als zweite erhielt die noch soeben regierende Sozialistische Partei (MSZP) 17,37 Prozent, beziehungsweise 4 Sitze. Ihr folgte die extrem rechte Partei Jobbik ("Für ein besseres Ungarn"), die mit 15 Prozent der Stimmen 3 Abgeordnete nach Straßburg schicken w
schicken wird. Schließlich gelang es der einmal größten politischen Kraft der Wendezeit, dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) mit 5,3 Stimmen, einem Prozentsatz knapp oberhalb der Hürde, gerade noch ein Mandat zu erwerben. Nicht geschafft hat es hingegen der andere Protagonist des Systemwechsels, der aus der Menschrechtsbewegung hervorgekommene liberale Bund Freier Demokraten (SZDSZ), er erhielt nur 2,16 Prozent der Wählerstimmen. Wahrscheinlich kommt es bei den nächsten Parlamentswahlen, welche, falls sie nicht vorgezogen werden, im Frühjahr 2010 stattfinden sollen, zu einer weitaus höheren Beteiligung als bei dem Wettlauf um die EU-Sitze, der lediglich als Testwahl gilt. In diesem Fall können die Stimmenanteile vor allem der Gegenspieler Fidesz und MSZP in diese oder andere Richtung noch modifiziert werden. Kaum abzuändern sind hingegen zwei Tatsachen: Der erdrutschartige Sieg der rechtsradikalen Jobbik unter der Führung des jungen, ambitiösen Historikers Gábor Vona.Die größte MobilisierungObwohl sich ihr Erfolg schon vorher deutlich abgezeichnet hatte, prophezeiten ihnen die Meinungsforscher ursprünglich höchstens so viele Stimmen, wie die Spitzenkandidatin Krisztina Morvai für ihr Mandat gebraucht hätte. Einige Demoskopen hatten aber schon prophezeit, dass dieser Erfolg um so größer sein könnte, je weniger Bürge von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen würden. Mit gewissem Recht gingen sie davon aus, dass die aufstrebende nationalistische Opposition über eine weitaus größere potentielle Mobilisierungskraft verfügt, als die sozialistische oder linksliberale Parteien mit ihrer mehrfach enttäuschten Anhängerschaft.Gleichzeitig wusste man selbstverständlich, dass sowohl die MSZP als der SZDSZ selbst in ihrem jetzigen desolaten Zustand unbedingt mehr Parteigänger hatten, als dies ihre kläglichen Stimmergebnisse zeigten – allerdings verhielten viele von ihnen ausgerechnet am Tag der Entscheidung passiv. Was aber für die größere Partei höchstens einen empfindlichen Gewichtverlust mit sich brachte, bedeutet für die kleinere das Absinken in das politische Nichts.Anders gesagt, zeichnete sich am 7. Juni 2009 eine eindeutige Verschiebung der ungarischen Politik nach Mitte-Rechts und darüber hinaus nach außen ab, während der traditionelle Liberalismus, wenigstens aus dem parlamentarischen Leben zu verschwinden droht. Der 7. Juni war also in doppeltem Sinne ein wahrhaft trauriger Sonntag für die ungarische Demokratie. Die 2002 gegründete Jobbik versteht sich als christlich-nationale Ordnungspartei, welche Ungarn als Opfer einer westlichen "Kolonisierung" betrachtet und in der EU-Zugehörigkeit die Einschränkung der Unabhängigkeit des Landes sieht. Innenpolitisch verfolgt sie das Ziel, die von ihm als postkommunistisch und liberal bezeichneten Kräfte zu verdrängen, einen entschiedenen Kampf gegen die so genannte "Zigeunerkriminalität" zu führen und sei es durch Neuerrichtung des Gendarmerie der Zwischenkriegszeit, die nach 1945 als Hauptschuldige an der Deportation von hunderttausenden Juden aufgelöst wurde. Außerdem befürworten sie die Wiedereinführung der nach der Wende abgeschafften Todesstrafe.Im Dunstkreis der GardenJobbik als politische Organisation ist außerdem nicht zu trennen von der paramilitärischen "Ungarischen Garde", welche vor zwei Jahren Gábor Vona höchstpersönlich aus der Taufe gehoben hatte. Der Dunstkreis dieser Organisation befindet sich in der Menge der verschiedenen, legalen oder halblegalen Internetportale (barikad.hu, kurucinfo.hu), aber auch bei der tausendstarken Leserschaft der Onlineausgabe der vormals liberalen Magyar Hírlap einer Tageszeitung, die dem steinreichen Unternehmer Gábor Széles, wahrscheinlich einem Gönner der Jobbik, angehört.Diese virtuelle politische Unterwelt reagiert auf die ohnehin durch rassistische Emotionen gefärbte Sprache der rechten Wortführer emphatisch und ihre Ausdrucksweise treibt mit jedem Anzeichen von Mäßigung ihren Spott. Der Ungeist, der in dieser Journaille sichtbar wird, lässt sich kaum mit westlichen politischen Begriffen beschreiben. (Siehe meinen Artikel „In den Fluten des Sambesi“, Der Freitag, 16. Januar 2009). Er ist eine Mischung von Primitivität, Sexismus, Aggression und extremer Intoleranz selbst gegenüber den anderen Korrespondenten..Nun übernahmen die Celebs die Sprache der Loser, die Namhaften den Stil der Namenlosen. Erstaunlich, ja erschütternd erscheint dies besonders im Fall der inzwischen erfolgreich gewordenen EU-Kandidatin der Vona-Partei, Krisztina Morvai. Diese juristisch gebildete Frau kämpfte einmal als Feministin gegen Gewalt in der Familie, für die Rechte der Prostituierten, für die Würde der AIDS-kranken, arbeitete später in der UNO-Kommission für Frauenrechte. 2006 wurde sie aus dieser Funktion, nach ihrer Ansicht wegen Untersuchung der Lage palästinensischer Frauen, von der Budapester Regierung „auf Betreiben zionistischer Kreise" abberufen und begann gleichzeitig eine atemberaubende politische Laufbahn im rechtsextremen Lager.Bereits damals entwichen ihr Sätze, wie diejenige aus ihrem skandalösen Interview in einem liberalen ungarischen Journal: „Wir Ungarn wollen es nicht zur Kenntnis nehmen, dass man uns zum kolonialen Los verurteilt und wir reagieren auf den Ausverkauf Ungarns wie ihn Eurer geliebter Boss Simon Peres verkündete, anders als erwartet, nämlich, wir sagen nicht: Shalom, Shalom, bitte, bedienen sie sich…“Diese Phrase erwies sich als kein Ausrutscher, sondern folgensschwerer Beginn einer andersartigen, von der Welt der Menschen- und Frauenrechte weit entfernten Kommunikation. Für Frau Morvai teilte sich seitdem die Menschheit auf zwei Kategorien: „ihre Sorte“ und „unsere Sorte“ – „echte“ und „unechte“ Ungarn.Kurz vor dem Tag der EU-Wahlen erhielt sie einen kritischen Brief vom Teilnehmer eines Internetleserzirkels, der sich als „stolzer ungarische Jude“ vorstellte, worauf die Jobbik-Politikerin mit den folgenden Worten reagierte: „Ich würde mich sehr freuen, wenn diejenige, die sich als „stolze ungarische Juden“ preisen, in ihrer Freizeit lieber mit ihrem winzigen beschnittenen Schwanz spielen würden, anstatt mich zu verleumden. Eure Sorte hat sich daran gewöhnt, dass nach jedem ihrem Furz unsere Sorte strammsteht und sich nach Ihnen richtet.“Damit hat sie eindeutig jene Grenze überschritten, die eine Person der Öffentlichkeit bei aller emotionellen Betroffenheit achten müsste. Zwar werden obszöne Ausdrücke auf beiden Seiten der ungarischen Parteipalette häufig benützt, was unsere politische Zivilisation gar nicht ziert, hätte diese Vereinigung des Rassismus mit Sexismus schon einen größeren Eklat verdient, als den, welchen sie ausgelöst hatte – ein entscheidender Protest erfolgte lediglich seitens der jüdischen Gemeinde.Erstaunlich ist eher, dass sozialistische und liberale EU-Spitzenkandidaten nach alledem bereit waren, an der abschließenden Fernsehdiskussion mit Frau Morvai teilzunehmen, wie auch die Tatsache, dass sie von dem Fernsehen nicht ausgeladen wurde.Die Verrohung der politischen Sitten hängt selbstverständlich nicht nur mit den Rechtsradikalen, den Erbverwaltern der faschistischen Pfeilkreuzlerbewegung der Vorkriegszeit zusammen. Vielmehr ist es ein Ausgeburt jener dauerhaften, hysterischen Atmosphäre, in welcher der Konflikt der beiden großen „Volksparteien“ Fidesz und MSZP verläuft, und die nicht ungenau als „kalter Bürgerkrieg“ bezeichnet wird. Um auf das andere Ergebnis der EU-Wahlen zurückzukommen: Das in vielem selbstverschuldete Verschwinden des SZDSZ von der politischen Karte des Landes hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass dass das ohrenbetäubende Schlachtgetöse der letzten zumindest zehn Jahre die Öffentlichkeit für jeden Zwischenton taub machte. Was mit dem Einmarsch der Gardenpartei in Straßburg beginnt, zeigt, dass es in Ungarn etwas mehr auf dem Spiel steht als der Sieg der einen oder anderen Seite: Der mentale Zustand der Gesellschaft ist akut gefährdet.
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