Am Sonnabend des 1. Juli 1911 um Punkt 18 Uhr öffnet der Münchner Cafetier Joseph Schottenhaml die Pforten des Café Odeon am Limmatquai in Zürich. Das Tagblatt der Stadt Zürich veröffentlicht an jenem Tag eine Annonce, welche als besondere Attraktionen die „eigene Konditorei, 10 Neuhusen Billards, 2 Match Billards sowie Münchner Löwenbräu und Pilsner Kaiserquell Biere“ im Odeon anpreist. Die im Wiener Jugendstil gehaltenen, auf zwei Stockwerke verteilten Räumlichkeiten strahlen in den kommenden Jahrzehnten jedoch eine über Bier und Billard noch weitaus größere Attraktivität aus und tragen maßgeblich dazu bei, aus dem beschaulichen Zürich eine, wenn auch kleine, Großstadt zu machen.
Das Odeon wir
Das Odeon wird schnell ein Ort urbaner Weltläufigkeit, ein Treffpunkt der Kosmopoliten, wofür der bald auf groteske Art gewalttätige Weltenlauf maßgeblich verantwortlich sein wird. Während zwei Weltenbrände das Antlitz der Menschheit endgültig in eine Fratze verwandeln, versammeln sich hier Künstler und Literaten aus der ganzen Welt. Sie versuchen an dieser Menschheit nicht zu verzweifeln, kämpfen um einen Ausdruck für den Irrsinn alltäglichen Mordens und Sterbens, bekämpfen ihre Fassungslosigkeit mit hitzigen Gesprächen oder einfach mit einer Tanzeinlage im oberen Stockwerk, werden aber von der täglichen Lektüre der zahllosen, zum Teil zweimal am Tag erscheinenden Zeitungen immer wieder um ihre fragile Balance gebracht. Das alles unter den Augen von geflissentlich die Exzesse oder anderen (monetären) Schwächen ihrer Stammkundschaft übersehenden Kellnern, die im Grunde das Rückgrat dieser unglaublichen Erfolgsgeschichte bilden.Die geschwungene Theke wirkt wie eine tektonische Platte, an der weltpolitische Verwerfungen sehr genau wahrgenommen werden, wenn diese Erschütterungen nicht sogar vom Odeon ihren Ausgang nehmen. Hier verhandelt Lenin, der seit 1914 im Exil in der Schweiz lebt, mit deutschen Gesandten die Modalitäten der legendären Fahrt im versiegelten Zug durchs Deutsche Reich nach St. Petersburg. Vor dem Odeon versammelt er sich mit 40 Mitreisenden vor der Abreise.HandgreiflichkeitenBis dahin ist Lenin einer der ersten Stammgäste, entflieht so den ärmlichen Verhältnissen seines kleinen Zimmers in der Altstadt. Stundenlang vertieft in die internationale Presse oder diskutierend mit regelmäßig eintreffenden Sympathisanten. Als Hugo Ball 1916 das Cabaret Voltaire in der Spiegelgasse eröffnet und damit in unmittelbarer Nachbarschaft Lenins mit der Dada-Bewegung eine kulturelle Revolution vom Zaun bricht, liegen nächtelange Diskussionen mit seinen Mitstreitern Tristan Tzara, Emmy Hennings oder Hans Arp im Grandcafé Odeon hinter ihm. Hier bespricht Karl Krauss mit Freunden, wie er das Manuskript seines monströsen im Glarnerland geschriebenen Theaterstücks Die letzten Tage der Menschheit an Zoll und Zensur vorbei nach Wien schaffen kann. Hier rührt Albert Einstein sinnierend in einer Kaffeetasse, während ihm womöglich die Grundzüge seiner Zeit und Raum in ein neues Licht setzenden Theorie einfallen.Der Riss, der durch die Schweiz geht während des Großen Krieges – soll man sich auf die Seite der Deutschen oder der Franzosen stellen, oder soll man neutral bleiben? –, er geht auch mitten durch das Odeon. Hier wird die nationale Debatte über die Neutralität gelegentlich durchaus handgreiflich geführt. Dass dann mit Oberst Ulrich Wille sogar ein Stammgast zum General berufen wird, mag die Gemüter vielleicht beruhigt haben. Jedenfalls entpuppt sich dieser bodenständige Militär dann als Garant der eidgenössischen Neutralität ... Und das Odeon kann eine europäische Insel der Literaten und Intellektuellen bleiben. Als Wille im November 1918 den einzigen Landesstreik in der Schweizer Geschichte militärisch niederschlagen lässt, müssen im Café Odeon, wo auch die Granden der Sozialdemokratie verkehren, die Wellen wieder hochgeschlagen sein.In der Zwischenkriegszeit herrscht dann, wie in allen Metropolen Europas, ungezügelter Hedonimus und Amusement. Im oberen Stock spielt Abend für Abend die Musik, Champagner fließt in Strömen (tatsächlich bietet das Odeon als erste Lokalität überhaupt das einzelne Glas Sekt anstelle der ganzen Flasche an, ein Bombengeschäft), den Damen rutschen gerne die dünnen Träger ihrer Kleider über die Schultern, und die Herren wedeln mit den großformatigen Geldscheinen.Ab 1933 schart sich erneut die literarische Elite aus dem benachbarten Ausland um die runden Bistrotische. Die Buchhändler- und Verlagslegende Emil Oprecht hat gerade den Europa-Verlag gegründet, verlegt Literatur, die in Nazi-Deutschland verbrannt wird, und führt seine Autorengespräche lieber gleich im Odeon. Else Lasker-Schüler taucht fast täglich auf, Erika und Klaus Mann stoßen dazu. Nur im Café zu sitzen, reicht ihnen bald nicht mehr, und so gründen die Geschwister das Kabarett „Pfeffermühle“. Auch Frontisten, Schweizer Nazi-Sympathisanten, verkehren im Odeon, und so spiegelt das Lokal erneut die Auseinandersetzungen innerhalb der Schweizer Gesellschaft wider. Während die Rechten bewusst laut ihre Verachtung für Juden und Kommunisten kundtun, liest am anderen Ende des Odeons der kommunistische Publizist Willi Münzenberg, unmittelbar nach der Machtergreifung aus Berlin geflohen, die Druckfahnen seines ersten Braunbuches über Reichstagsbrand und Hitlerterror, das bereits Ende 1933 die Welt über den faschistischen Terror in Deutschland aufklärt.TheaterbesucherKurz vor dem Krieg kann Oprecht gerade noch verhindern, dass die Nazis über Strohmänner das Zürcher Schauspielhaus, das ihnen seit Langem ein Dorn im Auge ist, aufkaufen. Erste Gerüchte über diesen Coup werden im Odeon ausgetauscht und an der Theke nach einem klärenden Gespräch Oprechts mit dem Besitzer bestätigt. Theaterdirektor ist der Weingroßhändler Ferdinand Rieser. Er ist überzeugt, dass die Nazis die Schweiz überfallen werden, und will sich ins Ausland absetzen. Oprecht gründet die „Neue Schauspiel AG“ und mietet das Theater von nun an von seinem Besitzer. Der Grundstein für die größte Zeit dieser Bühne ist gelegt. Unter der Intendanz von Oskar Wälterlin wird einzig und allein in Zürich auf einer Bühne deutschsprachige antifaschistische Kritik an den Verhältnissen in Deutschland geübt, etwa in den regelmäßigen Uraufführungen von Brecht-Stücken. Leopold Lindtberg, Therese Giehse und Albert Bassermann werden nun oft im Odeon gesehen, das nur einen Katzensprung von der Pfauenbühne entfernt ist.Nach dem Krieg erleben Dürrenmatt und Frisch ihre ersten Uraufführungen im Schauspielhaus und sind nach ausgiebigen lukullischen Vergnügungen in der Kronenhalle des Öfteren noch auf einen Absacker im Odeon auf der anderen Straßenseite gelandet. Dann dreht 1959 der Schweizer Filmregisseur Kurt Früh sogar einen Film, der im Odeon spielt und auch wie das Café heißt. Mit Emil Hegetschweiler als Kellner, die letzte Filmrolle dieses großen Volksschauspielers. Die eher ländlich geprägte Schweiz wusste gar nicht, wie ihr geschieht mit diesem in der intellektuellen Welt nun hoch geachteten Zürich, das sich als Bastion einer freien Welt erwiesen hat und mit dem Odeon auch noch den würdigen Treffpunkt dieser Szene bietet.Die Debatten der sechziger Jahre werden nach den Demonstrationen schließlich ebenso in seinen Räumlichkeiten geführt, wie dann die unmittelbare Nähe zum ersten Drogenumschlagplatz an der so genannten Riviera in den siebziger Jahren den plötzlichen Niedergang einleitet. Rivalisierende Drogenhändlerringe verlagern ihre Kämpfe in die Räumlichkeiten des Odeons. Es kommt zu Krawallen, das Mobiliar wird zertrümmert, der Laden schließlich 1973 dichtgemacht. Nachdem der obere Stock ganz geschlossen und die rechte Hälfte abgetrennt wurde, darf das Odeon wieder öffnen – um gute drei Viertel seines Raumes (und dementsprechend seines Charmes) gebracht. Zuerst eine Modeboutique, dürfen nun – Ironie des Schicksals – seit den frühen neunziger Jahren in der Apotheke nebenan, früher der Ostflügel des Odeon, ganz legal Drogen verkauft werden.Keine Verwurzelung möglich Und heute? Auf der anderen Seite des Limmatquai macht das La Terrasse der alten Dame Odeon seit den neunziger Jahren Konkurrenz. Für die echten Rest-Odeon-Gänger, zu denen ich mich natürlich auch zähle, ist es jedoch verpönt, sich in dieses Schickimicki-Nest zu setzen. Ein Besitzerwechsel 2003/04 brachte Unruhe in die Belegschaft, den Abgang von der Barfrau Heidi, lange Jahre die Seele des Odeon, hat das Lokal bis heute nicht richtig verkraftet.Was bleibt, sind Erinnerungen. Meine eigenen, etwa wie ich mich als blutjunger Schauspielschüler immer etwas zu aufgeregt, gestenreich und ziemlich wirr an ersten Diskussionen über Theater und Film beteiligte. Und neben dem Reden hab ich wohl auch das Flirten im Odeon erstmals praktiziert. Dann die Begegnungen mit den letzten originalen Nachtgestalten Zürichs, noch nicht so stromlinienförmig herausgeputzt wie heute, eher verschrobene und zerzauste Kneipenphilosophen. Der Dichter Walbaum (Walter Baumann), der mit rührend kindlichem Blick und Rauschebart hin und wieder ein neues Gedicht vortrug. Oder der Publizist Peter K. Wehrli, der damals gleich nebenan wohnte und mich mit alten, von ihm ausgemusterten Büchern versorgte.Schließlich der Schriftsteller Hugo Loetscher, der mich im Odeon darüber belehrte, dass Menschen nicht „verwurzelt“ sein können, weil sie doch in der Lage seien, sich frei auf dem Planeten zu bewegen. Dazu erklingt Piotr Kraskas sardonisches Lachen an der Theke. Er ließ sich in den achtziger Jahren zum unumschränkten König über das „ZEN- und A-ZentrisCHe WeltreiCH“ ausrufen und hält das bis heute durch; einen jahrelangen Kleinkrieg mit den Verkehrsbetrieben der Stadt Zürich mit eingeschlossen, da der Souverän selbstverständlich keine Fahrkarten löst.Was die Erinnerung an die Historie angeht, ist nun Erfreuliches zu berichten: Zum 100. Geburtstag des Cafés hat der Europa-Verlag das großartige Buch von Curt Riess Café Odeon, bereits 1973 erschienen, wieder aufgelegt, versehen mit einem kenntnisreichen Vor- und Nachwort von Esther Scheidegger. Unbedingt lesenswerte Lektüre. Welt- und Kulturgeschichte durch das Brennglas eines Kaffeehauses gesehen. Mitreißend von einem mit allen Wassern gewaschenen Journalisten erzählt. Wahrlich ein Dokument des 20. Jahrhunderts, verfasst von – natürlich – einem Stammgast.
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