1983 Fünf grüne Bundestagsabgeordnete werben mit einer Aktion auf dem Ostberliner Alexanderplatz für Abrüstung in Ost und West – beobachtet von den Genossen des MfS
Petra Kelly (Mitte) und Lukas Beckmann (rechts) auf dem Alex
Foto: privat/ Petra-Kelly-Archiv
Eigentlich haben Petra Kelly und ihre grünen Fraktionskollegen Gert Bastian, Lukas Beckmann, Gabriele Potthast und Roland Vogt nur geplant, an der Zweiten Internationalen Abrüstungs- und Friedenskonferenz in Westberlin teilzunehmen. Es ist die Hochzeit der westdeutschen Friedensbewegung: Einige Monate zuvor haben 400.000 in Bonn für Frieden und gegen die Pläne von US-Präsident Ronald Reagan und der Bundesregierung protestiert, in Europa Pershing-II- und Flügelraketen (Cruise Missile) zu stationieren. Für die Grünen ist das Engagement in der Friedenspolitik von überragender Bedeutung, vergleichbar nur mit der Verankerung in der Anti-Atomkraft-Bewegung. Nach der Bundestagswahl vom 6. März 1983 ziehen sie erstmals ins Bonner Parlament ein.
Doch
Doch die Diskussion auf der Friedenskonferenz in Westberlin verläuft anders als erhofft. Lukas Beckmann erinnert sich, dass dabei nur der Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluss eine Rolle spielte. Unter dem Motto „Nicht dem Westen, nicht dem Osten, sondern untereinander loyal“ fodert eine kleine Minderheit, dass man das Thema weiter fassen müsse: Solidarität mit der polnischen Gewerkschaft Solidarność, mit der DDR-Opposition sowie der „Charta 77“ in der damaligen CSSR. Eine große Mehrheit stimmt jedoch gegen diesen Vorschlag. Aber die fünf Grünen wollen sich damit nicht abfinden. So entsteht die Idee, aus der geteilten Stadt auch eine symbolische Botschaft in die Welt zu schicken. Bei einem gemeinsamen Abendessen am 11. Mai wird eine Demonstration auf dem Ostberliner Alexanderplatz erwogen. Schnell sind zwei Transparente improvisiert: „Abrüstung in Ost und West – jetzt damit anfangen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“. Unter diesem Motto engagieren sich Friedensbewegte in der DDR gegen die Aufrüstung des Warschauer Pakts.Maximal eine MinuteMit einem geliehenen 350er-Mercedes – „solche dicken Bonzenautos imponierten den Grenzern“, sagt Beckmann – fährt das Quintett am nächsten Morgen über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Beckmann hat Einreiseverbot und keinen Ausweis dabei, erhält jedoch dank seines Führerscheins ein Tagesvisum. Flugblätter und Banner sind unter der Kleidung versteckt. Das eigentlich Erstaunliche ist für Lukas Beckmann, dass „an der Grenze Kelly und Bastian politisch nicht identifiziert wurden“. Schließlich gehören Kelly und der Ex-General zu den Galionsfiguren der westdeutschen Friedensbewegung. Doch Beckmann täuscht sich. Nach einem Bericht aus dem Ministerium für Staatssicherheit werden die fünf um 11.25 Uhr noch auf der Karl-Marx-Allee von der Abteilung 10 der HA VIII zur weiteren Beobachtung übernommen.Beckmann hat sich mit einem befreundeten Fotografen um fünf vor zwölf vor der Weltzeituhr mit den Worten verabredet, für ein Foto von der Aktion bleibe maximal eine Minute Zeit, um dann schnell wieder über die Grenze zu verschwinden. Die MfS-Späher ahnen scheinbar nichts, als sie notieren: „Bastian, Kelly, Vogt, Potthast und Beckmann unterhielten sich angeregt, wobei sie zwanglos zusammenstanden und sich in ihrer unmittelbaren Umgebung umsahen. 11.56 Uhr bildeten die oben genannten Personen (…) einen sehr engen Kreis, sodass nicht gesehen wurde, was in dessen Mitte geschah. Um 11.58 Uhr bildeten sie plötzlich, mit dem Rücken zur Weltzeituhr, einen Halbkreis. Dabei entfalteten sie zwei Spruchbänder (Größe je 2 m × 1m, Farbe grün mit schwarzer Aufschrift). Mit den Fußspitzen hielten sie die Spruchbänder auf der Erde fest und spannten diese mit den Händen vor den Körpern.“Schnell hat sich eine Menschenmenge gebildet. Sofort raffen die MfS-Mitarbeiter die Spruchbänder zusammen, es entstehen spontan heftige Diskussionen, immer mehr Schaulustige strömen zusammen. Die Aktivisten müssen sich ausweisen und betonen später, dass sie ihre Immunität als Mitglieder des Bundestags absichtlich nicht genutzt, sondern ihre normalen Pässe vorgezeigt hätten.Petra Kelly ist während des Gerangels um das Transparent gestürzt. Die Beobachter vermerken: „Daraufhin setzten sich Potthast, Beckmann, Vogt und Kelly auf den Alexanderplatz, während Bastian stehen blieb. Vogt streckte die Arme in die Luft, in der linken Hand das Buch und in der rechten Hand seinen Ausweis haltend. (…) Dabei äußerte er die Worte: ‚Keine Gewalt‘. (…) Dieses Buch hatte einen gelben Einband mit der Aufschrift ‚Mahatma Gandhi‘ und ein Porträtfoto einer männlichen Person.“ Währenddessen setzt sich Gert Bastian ebenfalls zu den sitzenden Personen. „Nach mehrmaliger Aufforderung (…) wurden sie gewaltsam abgeführt. Während dieser Zeit wuchs die Menschenmasse auf ca. 100 bis 120 Personen an.“Kellys SchwächeanfallBastian, Vogt und Kelly werden zu einem Lada gebracht. Vogt lässt sich mit angewinkelten Beinen tragen, Bastian und Kelly laufen nebenher, aber kündigen an, sich bei „Herrn Honecker“ zu beschweren. Potthast wird über den Platz geschleppt und zusammen mit Beckmann zum Präsidium der Deutschen Volkspolizei gefahren. Beckmann erinnert sich, einer der Volkspolizisten habe gesagt: „Jetzt geht’s ins Gefängnis“.Nach einem echten oder inszenierten Schwächeanfall von Petra Kelly, der geradezu Panik auslöst – „die hatten Angst, dass sie in ihrem Gewahrsam sterben könnte“, sagt Vogt – und der Erkenntnis, um wen es sich bei Kelly und Bastian handelt, sollen alle wieder entlassen werden. Beckmann im Rückblick: „Nach Petras Schwächeanfall und weil wir aus dem Fenster geschrien haben, ob hier noch andere politische Gefangenen sitzen würden, hatten die wohl genug von uns.“ Laut MfS-Bericht soll Vogt zudem ständig versucht haben, seine Gesprächspartner im Präsidium in politische Diskussionen zu verwickeln.Um 14.04 Uhr werden die Aktivisten zu ihrem geparkten Mercedes zurückgefahren. Mittlerweile hat sich die Gruppe entschieden, DDR-Staatschef Erich Honecker persönlich eine Erklärung zu überreichen. Akribisch beschreibt der MfS-Bericht die Autofahrt zum Gebäude des Staatsrats der DDR: „Beckmann stieg aus und begab sich zu einem auf dieser Straßenseite befindlichen VK-Posten. Diesen fragte er: ‚Wo befindet sich das Staatsratsgebäude?‘ Daraufhin antwortete der VK-Posten: ‚Sie stehen genau davor.‘ Weiterhin sagte Beckmann zu dem Posten: ‚Ich möchte zum Genossen Honecker, etwas abgeben. Kann ich auf diesem Parkplatz meinen Pkw abparken?‘ (…) Der VK-Posten verwies Beckmann auf die umliegenden Straßen.“Um 14.54 Uhr betritt die Gruppe das Staatsratsgebäude und übergibt die Erklärung, die „im Bewußtsein der besonderen Verpflichtung beider deutscher Staaten für Frieden und Entspannung in Europa“ an den Staatsratsvorsitzenden appelliert. Ein prominenter Mitunterzeichner des Papiers ist Milan Horáček, Exil-Tscheche und Menschenrechtler, der aber im Westen geblieben ist.Um 15.47 Uhr endet die Beobachtung am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Zurück in Westberlin müssen sich die fünf Friedensstreiter auf einer Pressekonferenz auch gegen Kritiker aus den eigenen Reihen verteidigen. Aber das Rauschen im bundesdeutschen Rundfunk und Blätterwald ist unüberhörbar. Auch das Neue Deutschland, dasZentralorgan der SED, berichtet.Der im Staatsrat hinterlassenen Erklärung folgt tags darauf ein Schreiben an die „werte Frau Kelly!“ Honecker schreibt: „(…) möchte ich Ihnen mitteilen, daß in der Sache, die Sie ansprechen, die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik voll und ganz mit Ihnen übereinstimmt.“ Am 31. Oktober 1983 überreichen Petra Kelly und eine Delegation der Grünen Honecker einen „Friedensvertrag“. Unübersehbar tragen sie auf ihren T-Shirts ein Emblem mit dem Motto der ostdeutschen Friedensbewegung, „Schwerter zu Pflugscharen“.
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