Trendvögel

A–Z Möwen profitieren vom Klimawandel und wachsenden Krabbenpopulationen. So schaffen sie es nie zum „Vogel des Jahres“, wie die Turteltaube. Unser Lexikon der Woche
Ausgabe 11/2020

A

Abwehr In Großstädten sind Tauben Dauertrend. Dass sie gefährliche Krankheiten übertragen, dass ihr Kot Städte verdreckt und Gebäude zerstört, sind Mythen. Zwar verhindern die aus Kunststoff hergestellten, keineswegs verletzenden Taubenspikes das Absitzen auf Dächern und Fassaden, dienen aber eher der Vermeidung eines ästhetischen Problems.

Der weiße schlierenförmige Kot der Stadttauben sieht eklig aus und ist einer nicht artgerechten Ernährung geschuldet, wenn Tauben Müll und Abfall fressen. Ähnlich im Ergebnis, weniger martialisch wirkend sind Kunststoffnetze. Taubenschreck „Rabe Lummy“, wenn alle paar Tage versetzt und freischwingend aufgehängt, löst bei Tauben dauerhaft Fluchtreflexe aus. Vogelabwehr mit Ultraschall verscheucht Tauben mit grellen Lichtimpulsen, schadet allerdings Hunden und Katzen. Gels, die Tauben durch optische Tricks vergrämen? Vögel können im ultravioletten Spektrum sehen und nehmen das Gel als Feuer wahr. Wer die Population tiergerecht eindämmen will, stellt Futterkästen mit Nistplätzen auf und ersetzt Eier durch Attrappen. Helena Neumann

B

Birding Genug von Yogamatte, Gärtnern, Meditieren? Birding ist Trend! Dafür legt der Guru unter den Vogelbeobachtern, David Lindo, sich schon mal rücklings auf Londoner Trottoirs. Sein Blog theurbanbirder.com, Kult unter Hobby-Birdern, machte das serbische Kikinda zum Waldohreulen-Wallfahrtsort (Eule). Im Winter versammeln sich dort bis zu 800 Vögel. Touristen verrenken sich dann die Hälse nach fluffigen Eulen. Wirklich neu ist Birding nicht. Doch dank Urban Birder Lindo hat die ehrwürdige Royal Society of Birds nun über eine Million Mitglieder.

Auftanken in der Natur, mit garantiertem Erfolgserlebnis? In ihrer Graphic Novel Birding für Ahnungslose geht die Biologin Véro Mischitz das Thema amüsant an: Wann und wo kann ich Vögel beobachten? Welcher Vogel ist das, wie lebt und singt er? Wie bestimmt man Vogelgruppen? Mit keinem anderen Hobby lässt sich Natur mit wenig Aufwand so intensiv erleben. Anfangs reichen Smartphone, Fernglas und Bestimmungsbuch, denn: „Irgendeinen Vogel sieht jeder.“ Helena Neumann

D

Dinos Dass Dinosaurier teilweise gefiedert waren und sie die Vorfahren der Vögel sind, ist heute Konsens. Auch außerhalb ihrer Dino-Mode-Hochzeit in den 90er Jahren trenden Saurier heute regelmäßig: weil mal wieder ein Jurassic-Park-Film ansteht, man im Berliner Naturkundemuseum Knochen umdekoriert oder eine wirkliche Entdeckung macht. Wie Anfang 2020, als ein unbekannter Zwergsaurier entdeckt wurde. „Vor 240 Millionen Jahren streifte ein nicht einmal zehn Zentimeter langes eidechsenartiges Tierchen durch das Schachtelhalmdickicht im heutigen Baden-Württemberg.“ Viel Mühe gab sich die Nachrichtenagentur dpa, um die Miniechse ins Bild zu rücken. Das Tier werde weiteren Untersuchungen unterzogen. Ob es im Federkleid herumstreifte, ist unbekannt. Fliegen konnte es wohl nicht, war aber aufgrund seiner Größe leicht zu werfen. Tobias Prüwer

E

Eule „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“, bedeutungsschwanger trug Georg Friedrich Hegel die Eule ins Stammbuch der Philosophie ein. Erkenntnis stellt sich, so sein Tenor, erst allmählich ein, wenn die Vernunft genügend walten konnte. Darum wird erst künftig zu wissen sein, ob es alles Hegel-Fans waren, die der Eule als Trendvogel schon so lange die Stange halten.

Als Figürchen und Klamottenmotiv ist das Sitz-und-Guck-Tier ein Dauerbrenner (Flamingo). Schon die alten Griechen – darauf bezog sich Hegel, denn Minerva ist der römische Name der Schutzgöttin Athens – liebten diese Verkörperung der Weisheit. Ein paar Jahrhunderte wurde sie mal als nokturner Unglücksrabe und Hexenfreund gemieden, dann wiederentdeckt. In der Populärkultur taucht die Eule als Klugscheißer häufig mit Brille und Buch auf. Harry Potter benutzte ein Exemplar als Boten. Rundäugig wacht sie über Naturschutzgebiete. Dabei ist das Vieh in Wahrheit alles andere als weise, sondern, wie die meisten Jäger, nur faul. Erkenntnis stellt sich eben spät ein. Tobias Prüwer

F

Flamingo Ich besitze sie, weil es sie wirklich gibt: eine Flamingo-Lichterkette. Auf die spontane Frage, was ich über Flamingos wüsste, würde ich allenfalls eine dürftige Zeichnung hinbekommen. Sind das überhaupt Vögel? Wo leben diese Tiere? Keine Ahnung. Die Tochter eines Bekannten hat auf ihrem Tankdeckel ernsthaft „Einhorn-Pipi“ stehen. Auch das ein Tier, na ja Fabelwesen, was Fragen aufwirft. Was sorgt dafür, dass diese Tiere (Mops, Einhorn, Flamingo, Eule und Alpaka standen zuletzt hoch im Kurs) trendy für die Menschen werden? Das Bedürfnis nach Harmonie!

Schnitt: Eine Reportage über Einkäufer für Ramschläden. Er zieht Kaffeetassen mit Flamingos der schlimmsten Kitschkategorie hervor. Wer kauft denn so was?, fragt der Reporter verwundert. Das seien Tassen für das „Harmoniemilieu“. Püppchen auf der Velourscouch, Fächer an der Wand und genau diese Tassen in der (beleuchteten!) Vitrine. So sehr die Aggression im freien Raum (Leander Scholz im aktuellen Vorwärts) zunimmt, so sehr verlangt es für die Menschen nach Harmonie im Privaten. Und da darf es einfach an süßen Tierchen fernab ihres Lebensraums und eigentlich wilden Habitus nicht fehlen. Schade für die Tiere, aber wie schade erst für uns. Jan C. Behmann

G

Gryff Unauslöschlich hat sich im Bilderreigen meiner Kindheitserinnerungen ein riesiger, sich steif durch Basel bewegender Vogelkopf eingenistet. Er stolziert mit ausgestreckten Flügeln, einem blauweißen Stab bewehrt und zwei mickrigen Beinchen an einem applaudierenden Publikum vorbei und beugt sich zu uns vor Schreck starren Kindern herunter. Fast scheint es, als wolle er mit seinem gebogenen Schnabel unsere Strickmützen aufpicken, es ist Januar und bitterkalt. Begleitet wird er von einem mit Grünzeug umwickelten, einen ganzen Baum schwingenden Troll und einem nicht minder furchteinflößenden Pelzwesen, das dem Grüffelo zur Ehre gereicht hätte.

Mit diesen drei Gestalten, dem „Vogel Gryff“, dem „Wilden Mann“ und dem „Leu“ werden alljährlich in Basel an drei Tagen im Januar mit einer Parade die drei Ehrengesellschaften gefeiert, eine im Mittelalter entstandene Urform von Gewerkschaften. Der „Wilde Mann“ steht für die „Hären“, die Fischer und Jäger. Der „Löwe“ für das „Rebhaus“, wo die Weinbauern tagen, und der „Gryff“ für die Wachleute der Stadtmauer. Heute mehr Ritual des gehobenen Bürgertums, sind die Umzüge für die seelische Entwicklung von Kindern unbezahlbar. Lebendige Märchenwelt à la Zauberer von Oz in der sonst so nüchternen Handelsstadt. Marc Ottiker

M

Medien Innerhalb der Medienlandschaft gibt es einen Wasservogel, dessen Name anklagend in die Debatte geworfen wird: „Das ist eine Ente“. Heute heißt es stattdessen meist „Fake News“. Woher aber kommt die Bezeichnung? Es gibt mehrere interessante Erklärungen: Eine meint, sie komme aus dem Mittelalter und habe ihre Wurzel im Französischen. Da gibt es die Wendung „vendre un canard à moitie“ (eine halbe Ente für eine ganze verkaufen). Gemeint ist damit, eine platte und unbedeutende Geschichte zum „großen Ding“ aufzublasen. Am Ende stand „Ente“ für komplette Falschmeldung.

Auch die „Blaue Ente“, ein Name, den manche Gaststätten führen, sei ein wenig mit falschem Gerücht verbunden, meinen manche Sprachforscher. Im Sinne von „blauen Dunst vormachen“, aber das scheint ein wenig weit hergeholt. Einleuchtender ist folgende Erklärung: Früher wurden in Redaktionen zweifelhafte Meldungen mit der Anmerkung n. t. (non testatum, nicht geprüft) versehen. Im gesprochenen Wort wurde die Abkürzung akustisch zu „en te“. Das sehe ich richtig vor mir, wie der Chefredakteur über den Korridor brüllt: „Nehmt das bloß nicht ins Blatt, das ist n. t.“ Magda Geisler

S

Schmetterlinge sind quasi die Mütter der Trendvögel. Schon das flotte Girl in den 1990er Jahren wusste ihr bonbonfarbenes Outfit durch gekonnt im Haupthaar drapierte Plastikschmetterlinge aufzuwerten. Seitdem (oder doch schon viel länger?) gilt: Sobald der Frühling zaghaft seine Fühler ausstreckt und die Osterschokolade in den Supermarktregalen „Nimm mich!“ schreit, wird die Schaufenster- oder Kauf-Animationsständer-Dekoration jedes Geschäfts über die Maßen beschmetterlingt (Flamingo).

Aber Schmetterlinge sind nicht nur schön und dekorativ, sondern auch ökologisch von Belang. Sie gehören zu den pflanzenbestäubenden Insekten und diese sind für uns Menschen sehr wichtig. Aber die meisten Menschen finden Insekten eklig. Deswegen hat diese Gruppe Sympathieträger nötig. Wie die fleißige Honigbiene oder die gemütliche Hummel oder eben Schmetterlinge. Vor allem die farbenfrohen Edelfalter, zu denen das Tagpfauenauge oder der Admiral gehören, finden wir Menschen hübsch. Zu der Gruppe gehören auch Großer Eisvogel und Kleiner Eisvogel – Vögel, die keine sind. Der Große Eisvogel braucht die Zitterpappel als Futterpflanze und befindet sich in guter Gesellschaft von Mond- und Maivogel, diversen Eulen und mindestens zwei Gluckenarten. Alles Schmetterlinge. Die meisten davon selten. Diana Gevers

T

Turteltaube Seit 1971 benennt der NABU jährlich den Vogel des Jahres. Die Wahl erfolgt nach Gefährdung der Art oder ihres Lebensraums durch den Menschen. 49 Jahre hat es gedauert, bis die Turteltaube endlich dran war. Dabei hätte sie es schon so lange verdient. Seit 1980 stellen die Experten einen Rückgang des Vorkommens von fast 90 Prozent fest. Die Situation ist sogar so dramatisch, dass sie der erste „Vogel des Jahres“ ist, der auf der weltweiten Roten Liste steht.

Hauptgrund ist der Lebensraumverlust. Die Turteltaube braucht strukturreiche Wald- und Feldränder. Die werden durch industrialisierte Landwirtschaft und das Streben nach maximalem Ertrag immer weiter wegrationalisiert. Außerdem ist die Turteltaube ein Langstrecken-Zieher. Und denen geht es besonders schlecht (der Freitag 40/2019). Am schlechtesten geht es den jagdbaren Arten, zu denen die Turteltaube zählt, trotz Roter Liste und EU-Vogelschutzrichtlinie. In zehn EU-Vertragsstaaten darf sie gejagt werden, zwei Millionen Tiere pro Jahr. Das ist die 45-fache Menge der aktuell in Deutschland jährlich brütenden Tiere. Diana Geveres

Z

Zuschreibungen aus der Vogelwelt charakterisieren manche menschlichen Eigenschaften oder manche Leute werden gleich als „komische Vögel“ eingeordnet. Da gibt es den „Pechvogel“, den „Spaßvogel“, den „Dreckspatz“, die „Schnapsdrossel“ (die ihren Schnapsverbrauch aber gar nicht drosselt) und viele andere. Der Anwurf „Du hast ’ne Meise“ wird sofort verstanden. Was im Fußball eine „Schwalbe“ ist, wissen auch Laien. Aber: dass ein „Mauersegler“ in Ostberlin früher manchmal als Bezeichnung für ein Westpaket verwendet wurde, wissen nicht mehr so viele. Wo aber wohnt der „komische Kauz“, der sonderlich, manchmal spaßhaft oder sogar einsam ist? Und nicht zu vergessen: Eine lustvolle, immer trendige Betätigung wird – im Volksmund – mit der Vogelwelt verbunden. Magda Geisler

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