Trickreich gegen Mitbestimmung

Wirtschaft Viele Unternehmen hebeln die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer aus. Die Politik muss jetzt handeln, schreibt DGB-Chef Reiner Hoffmann in einem Gastbeitrag
Steht seit Mai 2014 an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes: Reiner Hoffmann
Steht seit Mai 2014 an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes: Reiner Hoffmann

Foto: Carsten Koall / Getty Images

Mit Glück wird die deutsche Unternehmensmitbestimmung selten in Zusammenhang gebracht. Am wenigsten würde man erwarten, dass das ein Manager macht, aber es war so: Im Jahr 2012 lobte Michelin-Chef Jean-Dominique Senard die Mitbestimmung als „ungemeine Stärke“, weil Arbeitnehmervertreter nach Diskussionen letztlich die Konzernstrategie mittrügen. Die Deutschen, meinte er, seien sich ihres Glücks vermutlich gar nicht bewusst.

Vor allem die deutschen Unternehmen wissen es offenbar nicht und schätzen dieses Glück nicht. Im Gegenteil: Wer 2016, zum 40. Jahrestag des Mitbestimmungsgesetzes zurückschaut, stellt fest, dass Unternehmen ungebremst Schlupflöcher im Gesellschaftsrecht nutzen, um der ungeliebten Mitbestimmung zu entgehen. Das betrifft die Mitbestimmung für Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten, wo der Aufsichtsrat zu einem Drittel mit Arbeitnehmern besetzt werden muss. Und ebenso sehr das Mitbestimmungsgesetz, wonach in Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten der Aufsichtsrat zur Hälfte mit Arbeitnehmern besetzt werden muss. In beiden Fällen sieht der Gesetzgeber derzeit stumm zu, wie Betriebe sich drücken, selbst dann, wenn die juristischen Tricks hart an der Grenze zur Illegalität sind.

Dabei ist eines klar: Die demokratische Wahl von Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern in den Aufsichtsrat ist eine Erfolgsgeschichte. Dort, wo es Mitbestimmung gibt, gestaltet sich Wirtschaft nachweislich deutlich sozialer und demokratischer. Und nicht nur das: Studien belegen, dass Mitbestimmung auch die Produktivität erhöht. Gerade im Übergang zur Wirtschaft 4.0 sollte man deswegen auf die Beschäftigten mit ihrem Wissen, ihren Fähig- und Fertigkeiten setzen.

Doch was machen die Unternehmen? Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat die Umgehungen analysiert. Ein besonders beliebter Trick, der Mitbestimmung zu entgehen, ist die Umwandlung eines wachsenden Unternehmens in eine Europäische Aktiengesellschaft, eine SE. Kurz bevor sie den für die Mitbestimmung im Aufsichtsrat relevanten Schwellenwert von 2.000 Beschäftigten erreichen, schwenken Unternehmen um in die SE – für die sie in diesem Fall dann auch keine brauchen. Laut Hans-Böckler-Stiftung geschah dies bereits in rund 50 Fällen. Beliebt ist auch die Nutzung ausländischer Rechtsformen wie die Ltd. & Co. KG, für die das Mitbestimmungsgesetz nicht gilt – hier konstatiert die Stiftung 94 Fälle.

Die Nutzung dieser juristischen Tricks ist vielleicht legal, aber sicherlich nicht legitim. Wer Mitbestimmung vermeidet, entzieht sich seiner gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung. Nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung bringen die diversen Vermeidungsstrategien insgesamt 800.000 Arbeitnehmer/innen um ihre Interessenvertretung durch einen mitbestimmten Aufsichtsrat.

Sie entziehen sich aber nicht nur Gesetzen. Vor allem Mittelständler agieren auch gerne nach dem Prinzip: Wo keine Strafe, da auch kein Problem – und unterlaufen Gesetze. Eine aktuelle Untersuchung der Universität Jena belegt, dass hunderte mittelständische Unternehmen in Deutschland das Drittelbeteiligungsgesetz unterlaufen. Sie haben keinen Aufsichtsrat, in dem auch Arbeitnehmer vertreten sind. Mehr als die Hälfte der untersuchten GmbHs ignoriert die Vorschrift zur Einrichtung eines drittelbeteiligten Aufsichtsrats.

Die Schlussfolgerung daraus ist klar: Der mitbestimmungspolitische Stillstand muss endlich beendet werden. Wir fordern wirksame Sanktionen, wenn gegen Mitbestimmungsgesetze verstoßen wird. Es kann nicht angehen, dass ihre Anwendung im Jahr 2016 vom Gutdünken des Arbeitgebers abhängt. Bei der SE-Gesetzgebung sollte der deutsche Gesetzgeber dafür sorgen, dass bei schnell wachsenden Beschäftigtenzahlen in einem Unternehmen neu verhandelt werden muss. Dass das geht, macht Österreich vor, das eine entsprechende Definition der „strukturellen Änderung“ im SE-Beteiligungsgesetz eingebaut hat. Im Falle der Ltd-Umgehungen muss das Mitbestimmungsgesetz endlich moderner aufgestellt werden und auch auf Auslandsgesellschaften angewendet werden.

Wenn der Gesetzgeber jetzt nicht handelt, werden immer mehr junge und wachsende Unternehmen sich vor der Mitbestimmung drücken. Mitbestimmung gehört langfristig und umsichtig gepflegt – sie ist ein Glück für die deutschen Unternehmen, was diese im schlimmsten Fall erst begreifen, wenn es verschwindet. Dann, in der nächsten Wirtschaftskrise, ist es zu spät.

Reiner Hoffmann ist Bundesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds

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