Seither habe ich das Bewusstsein nicht mehr erlangt und werde es auch nie mehr erlangen." So endet die berühmte Reise nach Petuschki von Wenedikt Jerofejew. Eine Reise in den Alkohol und in ein Delirium ohne Ende. Der perfekte Einschluss des Bewusstseins in einen Rausch, ohne mehr aufwachen zu müssen. Danach suchen auch die Insassen der Delirantenstation in Jerzy Pilchs Roman Zum starken Engel. Sie lassen sich nur auf die medizinische Fürsorge ein, um für den nächsten Absturz besser gerüstet zu sein. An eine ernsthafte Genesung glaubt niemand mehr, vor allem nicht der Ich-Erzähler, Chronist und Ghostwriter der Insassen, die ihre Bemühungen, den Teufel Alkohol auszutreiben, fein säuberlich in ein Krankentagebuch eintragen müssen.
Jerzy Pilch
ssen.Jerzy Pilch ist Jahrgang 1952 und gehört in Polen zur mittleren Generation der Schriftsteller. In deutscher Übersetzung ist bisher sein Roman Andere Lüste erschienen. Im Unterschied zu Jerofejews verzweifelter Lage in der Sowjetunion Ende der sechziger Jahre scheint die Lage in Polen im Übergang zwischen zwei Systemen nicht ganz so aussichtslos zu sein. Auf eine Selbstbefragung nach den Gründen seiner Trinksucht antwortet der Ich-Erzähler: "du hast nicht 1980, als die erste Solidarnos´c´ entstand, so richtig mit dem Trinken angefangen, sondern du, Jurus´, hast im Jahre des Herrn 1978, als ein Pole auf den Petersstuhl kam, so richtig angefangen zu trinken, was, selbst wenn man deinen Protestantismus berücksichtigt, ein zufälliges Zusammentreffen ist." Wie in der Reise nach Petuschki, die zwischen den beiden Bahnstationen Kreml und dem versprochenen Ausflugsort Petuschki spielt, den der Protagonist aber nie erreichen wird, geht bei Pilch Gesellschaftssatire in intelligenten Nonsens über und die delirierende Sprache der Verzweiflung in absurde Komik. Aber die Liebenswürdigkeit der beiden Ich-Erzähler unterscheidet sich doch signifikant. Während Jerofejews Anti-Held im Komasuff zugleich am Ort der Höllenqualen und des Rauschparadieses angekommen ist, erzählt Jurus´ die Geschichte seiner Heilung: "So viele Male wollte ich die Geschichte eines Menschen beschreiben, der sich von seinem Fall erhebt, so viele Male, so unzählig viele Male, daß ich jetzt, wo ich durch einen unerklärlichen Zufall selbst wieder auf die Beine gekommen bin, wo ich selbst wieder auf die Beine gestellt wurde, wo jemandes sichtbare oder unsichtbare Hand mich aus dem Abgrund geholt hat, mit der eigenen Wiederauferstehung nicht Schritt halten kann." Deshalb kann schließlich auch die eigene Heilung ein Grund sein, wieder zur Flasche zu greifen."Zufall" ist eines der zentralen und häufigsten Worte, das in diesem Roman fällt. Man ist zufällig Protestant im katholischen Polen. Zufällig greift man zur Flasche, als die Berliner Mauer umfällt. Zufällig sieht man auf der Straße die Frau seiner Träume. Und allein dem Zufall ist es zu verdanken, dass man gerettet wird. Die "unsichtbare Hand", die ja bekanntlich seit Adam Smith die paternalistische Kontrolle über das Marktgeschehen hält, ist die gleiche Hand, die die einen retten und die anderen ins Verderben schicken kann. Am Ende des Romans wettet die Stimme des Alkohols mit dem Erzähler, dass sie all das ausgegebene Geld mit dem Verkauf des Romans wieder erwirtschaften kann. Natürlich mit dem Ziel, sich bloß wieder Alkohol zu kaufen. Und natürlich weiß der Erzähler, dass diese Rechnung nicht aufgehen wird, weil das Verlorene, und nicht nur das verlorene Geld, für immer verloren sein wird. So lässt sich trotz der Rettung die alte Verlustrechnung nach wie vor aufmachen. Und die fällt wie immer zu ungunsten der Schlechtweggekommenen aus.Während Pilch in seinem Roman Andere Lüste die Geschichte des Schelmen Pawel erzählt, der sich aufgrund einer außerehelichen Liebschaft um Kopf und Kragen lügen muss und im Grunde ein furchtbarer Feigling ist, der bei Mutter und Ehefrau unterkriecht und zugleich ein großer Lüstling sein möchte, scheint Zum starken Engel in der unbarmherzigen Gegenwart der neuen polnischen Metropolen angekommen zu sein. Der nostalgische Blick auf den Durchwurstler Pawel ist zugleich ein Blick auf das polnische Provinzleben, ebenso gekennzeichnet von Armut wie von einer stoischen Überlegenheit allen politischen Umwälzungen gegenüber. Dagegen geben dem Anti-Helden Jurus´ alle geschichtlichen Daten einen guten Anlass ab, zum Kräuterlikör zu greifen. Sollte tatsächlich mal ein Datum dabei sein, das eine bessere Zukunft verheißt, dann gibt es erst recht einen Grund zu feiern. Sollte man sich allerdings getäuscht haben, hat man seine Zeit wenigstens nicht mit vergeblichen Hoffnungen, sondern besoffen verbracht.Die Ironie, mit der Pilch seine Figuren in die Abgründe taucht und mit einem Augenzwinkern am Ende nicht darin untergehen lässt, weil sie sich auch unter diesen Umständen ganz wohl zu fühlen scheinen, hält stets noch die Möglichkeit offen, dass das Koma von Jerofejews Held nicht der einzige Ort eines diesseitigen, teuer erkauften Paradieses ist. Das spiegelt vielleicht auch die Situation des Schreibens wieder. Während der Roman Die Reise nach Petuschki 1973 erstmals auf Russisch in Israel publiziert werden konnte und in der Sowjetunion sogar erst 1988, zwei Jahre vor dem Tod des Autors, erhielt Pilch für seinen Roman Zum starken Engel den "Nike"-Literaturpreis, Polens bedeutendste Auszeichnung für Schriftsteller. Also muss sich doch etwas verändert haben. Zumindest hinsichtlich der Lust am stilvollen Untergang. Ein Vergnügen sind Pilchs Romane allemal.Jerzy Pilch: Zum starken Engel. Roman. Aus dem polnischen von Albrecht Lempp. Luchterhand, München 2002, 283 S., 20 EURJerzy Pilch: Andere Lüste. Roman. Aus dem polnischen von Albrecht Lempp. Luchterhand, München 2000, 171 S., 14,30 EUR
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