Es gibt zwei sehr verschiedene Arten, erworbene Bildung nach außen zu kehren. Der Dandy exponiert sein Wissen als Teil eines ästhetischen Spiels in Gesellschaft, von dem im besten Fall alle profitieren. Eine gute Pointe und eine Portion Selbstironie sind Pflicht. Ganz anders betreibt dieses Spiel der Streber – er verzieht keine Miene und hört erst auf, wenn er alles, wirklich alles, was er weiß, ins Protokoll eingetragen hat.
Jochen Distelmeyer, bis 2007 Sänger und Kopf der einflussreichen Hamburger Band Blumfeld, hat nun mit Otis seinen Debütroman vorgelegt und gibt sich dabei bedauerlicherweise als recht humorloser Streber zu erkennen. Wie schade, denn das ist nicht einmal das größte Problem dieses Buchs. Distelmeyers literarische Ambition ist, vorsichtig gesagt, verwegen. Auf 288 Seiten versucht er sich an einem zeitgenössischen Pastiche von Homers Odyssee, eingebettet in einen Großstadtroman.
Otis erzählt von vier Tagen im Leben des Mittdreißigers Tristan Funke. Nach einer gescheiterten Beziehung war dieser zwecks Trauerbewältigung ins verheißungsvolle Berlin gezogen und hatte mit dem Schreiben seines ersten Romans (ebenfalls Otis) begonnen. Wie das aber so ist, mit dem Schreiben will es nicht recht klappen, mit der Bewältigung der Vergangenheit und den Frauen noch weniger.
Natürlich ehr- und skrupellos
Fixpunkt bildet die zehn Jahre währende Irrfahrt des Odysseus. Sie dient als Allegorie und soll die Handlung strukturieren, weswegen Distelmeyer immer wieder Zusammenfassungen des antiken Stoffs einfließen lässt. Von einer Irrfahrt, von Abenteuern aber weiß der Roman gar nicht zu berichten. Tristan Funke agiert vollkommen uninspiriert, sein Schicksal könnte den Leser nicht gleichgültiger lassen. Womöglich wollte Distelmeyer einen sensiblen Charakter skizzieren, herausgekommen ist ein Mann ohne Eigenschaften, der, wie es zu Beginn heißt, auf eine „Rückkehr zu sich selbst“ hofft.
Das sieht dann so aus: Unser Held läuft in der Gegend herum, trifft einen natürlich skrupellosen Verleger, einen natürlich vorbildlich integrierten türkischen Busfahrer sowie seine natürlich mittlerweile schwangere Exfreundin, und sein wohlhabender Onkel entpuppt sich natürlich als ehrloser Steuerhinterzieher. Tiefpunkt sind aber die weiblichen Figurenzeichnungen. Man müsste alle zitieren, so absurd geraten sind die Klischees, an jeder Ecke wartet eine „eigenwillige Kunststudentin“, die „Erbin eines Senffabrikanten“ oder – kein Witz! – „eine bipolare Goldschmiedin“. An anderer Stelle heißt es: „Nora Thränhardt gehörte für ihn seitdem zu den Frauen von so außergewöhnlicher Schönheit, die sich ihrer Attraktivität überdrüssig, nach nichts mehr sehnten als danach, ihrer Persönlichkeit wegen und nicht bloß für ihr Äußeres geliebt zu werden [...] Sie war eine Gefangene ihrer Schönheit.“
Die Sprache Distelmeyers ist voller Stereotype und Manierismen, die Dialoge sind blutleer, die Handlung bleibt fad. Man wünscht sich sehnlichst, endlich möge mal etwas passieren. Aber selbst das Aufeinandertreffen zweier Geliebter auf einer Party, irgendwie ein „Höhepunkt“ der Geschichte, bleibt ohne Konflikt – es ist wie in einem Nicholas-Sparks-Roman. Der Held Tristan zieht Vergleiche, wo man beim besten Willen keine Ähnlichkeiten entdecken kann. Sein entscheidender Erkenntnisgewinn mündet in einer, man traut sich kaum, es zu schreiben, Dart-Allegorie. Im Fernsehen läuft die Dart-Weltmeisterschaft, und der Protagonist erkennt in den Sportlern „die Nachfahren der griechischen Speerwerfer und Bogenschützen, über die er in der ‚Ilias‘ und der ‚Odyssee‘ gelesen hatte.“ Es ist eine Sensation: „Tristan war erleichtert. Es war alles ganz einfach [...] Seine Gedanken überschlugen sich. Alles machte Sinn und beflügelte ihn zusehends.“
Man hat das Gefühl, Distelmeyer nutzt die Geschichte, um mal aufzuschreiben, was er alles so kennt. Natürlich die Odyssee, aber auch den Architekten Peter Zumthor, den Komponisten Bedřich Smetana, Filme von Jean Cocteau und Michael Haneke sowie Zitate von Paul Celan. Es war das Virtuose von Jochen Distelmeyer und Blumfeld, dass sie den Spagat zwischen Subtilität und Oberfläche immer wieder erfolgreich gemeistert haben. Genau das gelingt in Otis leider nicht.
Buch
Otis Jochen Distelmeyer Rowohlt 2015, 288 S., 19,95 €
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