Schon vor dem Brexit-Votum musste die EU manchen Einschlag verkraften (siehe Info)
Illustration: der Freitag
In knapp einem Monat ist es so weit, dann entscheiden die Briten über rein oder raus. Und je näher die Stunde der Wahrheit rückt, desto schriller wird der Gefechtslärm auf beiden Seiten. Umfragen seit Mitte Mai weisen inzwischen – nach einer Phase des Kopf-an-Kopf – auf einen deutlichen Vorsprung der Brexit-Gegner hin. Die Kampagne Britain Stronger in Europe ist zweifellos erfolgreich und hat die Brexiteers in die Defensive gedrängt. Im Moment erklären sich laut Economist, der alle Befragungen synchronisiert, 47 Prozent für einen Verbleib in der EU, 40 Prozent für den Ausstieg, während zehn Prozent noch unentschieden sein wollen. Der Abstand zwischen beiden Lagern ist bei Telefonumfragen noch größer.
Dennoch kann es knapp we
23;er.Dennoch kann es knapp werden am 23. Juni, auch wenn die Londoner Buchmacher das anders sehen. Das Wetten auf alles und jedes ist des Briten Lust, so auch diesmal, wenn viel auf dem Spiel steht. Und die Wetten stehen ganz eindeutig 6 : 1 gegen einen Brexit, und das seit April. Nach den Quoten der Wettbüros beträgt die Wahrscheinlichkeit eines EU-Verzichts gerade einmal 15 Prozent, die Wahrscheinlichkeit des Drinbleibens 85 Prozent. Man sollte nicht vergessen, die Bookies lagen schon beim Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands am Ende richtig.Dies ändert nichts daran, dass die regierenden Tories tief gespalten bleiben. Der Riss zwischen Brexiteers und Remainians verläuft quer durch die Regierung und die Unterhausfraktion. Labour hat es leichter, nur wenige Abgeordnete werben für den Brexit, die weitaus meisten Mitglieder und Repräsentanten der Partei sind für ein Ausharren in der EU, trotz aller Kritik an deren Zustand. Parteichef Jeremy Corbyn ist bislang allerdings, trotz seines vielfach erklärten Beistands für die Remain-Kampagne, nicht durch besonderen Eifer oder gar Leidenschaft für die europäische Sache hervorgetreten. Wie vielen Linken fällt es ihm nicht leicht, die neoliberale Grundtönung der Staatenunion gutzuheißen. Sadiq Khan, der neue Labour-Oberbürgermeister von London, empfiehlt sich dagegen als laute Stimme in der Remain-Kampagne. In der Hauptstadt optiert die Wählerschaft mehrheitlich für die EU. Bei den Einwohnern der größten Metropole Europas läuft Stimmungsmache gegen Ausländer ins Leere. Die Stadt müsste sich selbst verleugnen, wollte sie kontinentaleuropäische Xenophobie aufnehmen.Wer will die Insel entern?So wird es in den letzten Debatten vor dem Votum eher um Psychologie als um Fakten gehen. Beide Lager appellieren an Unbehagen und Unsicherheiten. Für die EU und die Feinheiten europäischer Politik interessieren sich die Briten traditionell weniger als die Bürger Kerneuropas zwischen Berlin, Brüssel und Paris. Häufig sind der politischen Klasse Britanniens einfachste Tatbestände nicht geläufig, so dass Demagogen vom Schlage Nigel Farages, Führer der UK Independence Party (UKIP) und immerhin Mitglied des EU-Parlaments, leichtes Spiel haben. Das Ausmaß der Ahnungslosigkeit ist mitunter erschütternd. Premier David Cameron muss eigenen Ministern widersprechen, die öffentlich behaupten, Großbritannien könne gegen einen eventuellen EU-Beitritt der Türkei nichts unternehmen.Placeholder infobox-1Wie es scheint, hat das Remain-Lager mit einem Trommelfeuer düsterer Prophezeiungen über die bösen Folgen eines Brexits für die britische Wirtschaft Eindruck hinterlassen. Der jüngste Absturz des Pfund tat ein Übriges. Worin die Konsequenzen eines EU-Ausstiegs genau bestehen, wie viele Jobs der kosten, wie sehr die Lebenshaltung teurer würde, kann natürlich niemand genau wissen. Aber dass die Wirtschaft der Insel für einige Zeit in Turbulenzen geriete, hat sich herumgesprochen. Protagonisten der Brexit-Kampagne verlegen sich daher immer stärker auf die Reizthemen Ausländer und Migration. Sie betreten damit vermintes Gelände, denn die britische Einwanderungspolitik hat mindestens ebenso viel mit dem Erbe des Empire zu tun wie mit der EU. Das Remain-Lager hält dagegen: wir brauchen die hoch- wie die weniger qualifizierten EU-Ausländer überall, nicht zuletzt in unserem Nationalen Gesundheitsdienst (NHS). Obendrein gebe es mit EU-Ausländern kein Integrationsproblem, sie brächten dem britischen Staat weit mehr ein, als sie kosten.Jüngere Briten tendieren in ihrer Mehrheit zu einem Plädoyer pro Europa und reagieren auf die nationalistische Folklore der Brexiteers eher zurückhaltend. Die von UKIP-Fans verbreitete Schauergeschichte, mehr als zwei Millionen EU-Bürger warteten nur darauf, die britischen Inseln zu entern, verfängt bei ihnen kaum. Dass Tory-Justizminister Dominic Raab, einer der führenden Brexiteers, frohgemut ankündigt, künftig würden alle EU-Bürger ein Visum brauchen, um nach Großbritannien gelassen zu werden, löst bei den polyglotten, welterfahrenen Briten eher Befremden aus. Auch die obskure Idee, die Landgrenze zur Republik Irland zu verrammeln, irritiert, statt die Brexit-Front zu stärken. Längst findet Jeremy Corbyn als durchaus EU-kritischer Befürworter fortwährender EU-Präsenz – mit der Perspektive, die EU zum Gelobten Land eines „sozialen Kontinents“ zu machen – weit mehr Anklang als die borniert arroganten Nationalisten vom Schlage eines Nigel Farage. Boris Johnson versucht, als Leitfigur der Tory-Brexit-Fraktion mit seiner Popularität zu wuchern, erschöpft sich aber zusehends in kraftmeierischen Plattitüden. Auch weil ihn die ökonomischen Eliten meiden? Banker und Börsenmakler, Fondsmanager und Finanzinvestoren halten den Brexit für ein unkalkulierbares, daher nicht akzeptables Risiko. Selbst die zur Zurückhaltung verpflichteten Zentralbanker haben sich klar gegen einen Abschied von der EU ausgesprochen. Da hat es schon erstaunt, dass andererseits die Manager von mehr 300 britischen Unternehmen in einem offenen Brief den Brexit ausdrücklich befürworten. Begründung: Die Brüsseler Bürokratie gefährde die Wettbewerbsfähigkeit der insularen Ökonomie. Diese Auffassung beseelt vornehmlich Eigentümer mittlerer und kleiner Firmen, die auf europäischen Freihandel nicht unbedingt angewiesen sind. Freilich sind die nicht eben in üppiger Zahl verbliebenen Unternehmer einer eigenen britischen Industrie ebenso wie die dort beschäftigten Facharbeiter wenig amüsiert von der Aussicht, nach einem Brexit ihr Heil im Design, Marketing und ähnlichen Dienstleistungen suchen zu müssen. All dem, was die neoliberalen Modernisierer, angefangen mit Margaret Thatcher, von der einheimischen Industrie noch übrig gelassen haben, ginge es dann an den Kragen.Schwere Buße angedrohtWährend man sich auf der Insel fetzt, steigt die Nervosität in Brüssel. Mitglieder der EU-Kommission lassen sich immer unwirscher vernehmen. Deren Präsident Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk fürchten, was linke wie rechte Brexiteers erhoffen: eine regelrechte Implosion der EU im Fall des Falls. Daher betonen beide bei jeder Gelegenheit, dass sie den Briten einen Exit sauer machen werden. Auf einen günstigen Deal, wie er einst mit Norwegen oder der Schweiz nach negativen EU-Referenden (siehe Übersicht) ausgehandelt wurde, dürfe London kaum hoffen. Die EU werde die Briten nicht besser, sondern deutlich schlechter behandeln als diese Nicht-EU-Länder. Juncker nahm gar das Wort „Deserteure“ in den Mund. Offenbar sollen unverhüllte Drohungen anderen unsicheren Kantonisten beizeiten klarmachen, was sie sich mit ähnlichen Absetzmanövern einhandeln.Führende Brexiteers deuten die Drohkulisse genüsslich als Offenbarungseid eurokratischer Verstiegenheit und bringen ins Gespräch, sich mit einer neuen britisch-russischen Allianz zu revanchieren.
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