Werbeträger Die Plastiktüte wurde oft totgesagt – und ist immer noch da. Viele sehen in ihr eine hässliche Umweltsünde, andere erliegen ihrer Ästhetik. Warum kommen wir nicht von ihr los?
Ein Samstagmittag in den Düsseldorf-Arcaden, einem großen Einkaufszentrum in der Düsseldorfer Innenstadt: Menschen laufen durcheinander, softe Musik klingt aus weit geöffneten Türen. Eine 16-Jährige mit blassem Teint und Nasenstecker schlendert aus einem der Läden, die sich kultig geben. Sie lächelt, sie hat gerade etwas gekauft. An ihrer Hand baumelt eine knallrote Plastiktüte, darin beult sich die Beute. Und damit auch jeder sieht, wo sie sie ergattert hat, zieht sich in Weiß ein kunstvoll gebrochener Schriftzug über die Breite des Beutels.
So oder so ähnlich werden Plastiktüten in alle Welt hinausgetragen, zumal in vielen Läden nicht lange gefragt wird, ob man eine Tüte will – man kriegt sie einfach. Die mei
h. Die meisten wollen ohnehin.Schon oft totgesagt, als Umweltsünde verschrien, als Billig-Accessoire abgetan, ist die Plastiktüte immer noch da. Fast alles, was irgendwo eingekauft wird, kommt in sie hinein, wird herumgetragen, ausgepackt, umgepackt, bis die Tüte in der Klappe unterm Backofen zwischengelagert wird, um sie schließlich als Müllsack zu verwenden.„Das ist einfach praktisch“, sagt die 16-Jährige im Gewühl des Einkaufszentrums. „Außerdem will ich nicht, dass jeder sieht, was ich gekauft habe.“ Und so bummelt sie mit zwei Freundinnen, die auch Tüten am Handgelenk tragen, weiter in den Gängen umher. Gemeinsam führen sie Werbebotschaften spazieren. Baumwollbeutel finden die Mädchen „uncool“, Tüten vom Kleiderdiscounter Kik „eher peinlich“.Den Glanz der MarkeSeit ihrer Einführung 1953 war die Plastiktüte nicht nur dienstbarer Geist, sondern immer auch eine effiziente Werbefläche, mit der sich viele Kunden nur allzu gern zeigten – vom Glanz der Marke sollte etwas auf den Träger abfallen.Dabei kommt es manchmal sogar zur Umwertung der Werte: Peter Zec, Leiter des Designzentrums Nordrhein-Westfalen, das in der Essener Zeche Zollverein seinen Sitz hat, hängt in seinem Büro einige Tüten zu Demonstrationszwecken über Stuhllehnen. Ganz einfache in schlichtem Weiß und extravagante mit besonders schlanken Trägern. Knisternd zieht er dann eine hervor, die jeder kennt: eine schwungvolle Komposition mit blau-weißer Linienführung. Der Aldi-Nord-Tüte, einst als Türkenkoffer verschmäht, bescheinigt Zec ein „hohes ästhetisches Niveau“. Darüber ließe sich zwar streiten, aber schön oder nicht, die Plastiktüte fungiert auf jeden Fall als eine Art Wundertüte, indem sie den Reiz des Verpackten steigert. Sie macht neugierig, das Verborgene wird begehrt.Zec sieht die Tüte daher auch als Konsumbeschleuniger: „Unsere Gesellschaft funktioniert eigentlich nur dadurch, dass Wünsche nicht wirklich befriedigt werden. Man vollzieht in der Konsumgesellschaft immer einen Coitus interruptus. In dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, dass ich wunschlos glücklich bin, entstehen schon wieder zehn neue Wünsche. Und durch die Verpackung werden ebenfalls neue Wünsche generiert.“Er hält einen Beutel hoch, der aber genau das Gegenteil macht – er offenbart alles: eine Tüte, die an ein junges Publikum adressiert ist. Die Tüte sei ein Werbeträger für Designer-Shirts, sagt Zec. Sie ist durchsichtig, nur mit dem Unternehmenslogo versehen. „Auf diese Weise wird sie als Multiplikator für die entsprechende Generation verstanden. Man gibt sich als Sympathisant dieser Marke zu erkennen.“Sichtbarer ImagewandelDie Sicht auf die Plastiktüte wandelte sich mit der Zeit. Während in den Wirtschaftswunderjahren niemand ein Problem darin sah, möglichst viele Einkäufe in möglichst vielen Tüten nach Hause zu schleppen, veränderte sich das Image in den siebziger Jahren mit dem erwachenden Ökologie-Bewusstsein zum Negativen. Sichtbares Zeichen des Wandels war der Jutebeutel. Wirklich gefährden konnte er die omnipräsente Tüte aber nicht.„Tüten sind Zeitkunst zum Tragen,“ sagt Gerd Mittendorf. Er ist Rentner – und Tütensammler. Mittendorfs Haus im Bergischen Land scheint bis unters Dach vollgepackt mit Tüten. Selbst die Flurwände zieren erlesene Exponate, sie sind sogar eingerahmt. Mittendorf sammelt seit 1985, er hat es auf mindestens 50.000 Tüten gebracht. Er zieht ein älteres Exemplar aus einem der Stapel: „Hier, eine Tüte mit einem gelben Küken, mit blauen Strichen umrahmt, offenes Ei, dazu der Schriftzug: ‚Wie aus dem Ei gepellt. Ihre Reinigung‘.“Mittendorf ist in seinem Element: „Ich beobachte immer, was die Leute an den Händen halten: Sag mir, welche Tasche du trägst, und ich sage dir, wer du bist.“ Selbst im Osten galt das vor 1989 – da, wo das eigentlich nicht so sein sollte. Mitte der achtziger Jahre konnte man auf den Flohmärkten von Budapest Trauben von Menschen bewundern, die vor Bergen von Plastiktüten standen. Neue und gebrauchte, unversehrte und geflickte. Mitten im Sozialismus ein Verkaufsstand, der kapitalistische Plastiktüten aus dem Westen anbot. Trotz hoher Preise fanden sie reißenden Absatz.In der DDR waren die „Plastetüten“ unter Schülern sehr beliebt, um darin Bücher oder das Sportzeug herumzutragen – statt Stoffbeutel eine Tüte aus dem Westen. Mehr Distinktionsgewinn ging nicht. Es gab Schüler, die trugen die Tüte nicht am Henkel, denn dann hätte sie ja reißen können. Nein, sie wurde schonend unter den Arm geklemmt.Trägste was, zeigste was. Das kann aber auch nach hinten losgehen: Peter Zec hat das einmal in der New Yorker U-Bahn erlebt, zu Zeiten, als es da noch ziemlich rau zuging. „Ich hatte bei Armani eingekauft. Das war eine schlimme Fahrt, weil ich bei jedem neuen Fahrgast, der in die dunkle U-Bahn kam, Angst hatte, dass ich mit meiner Armani-Tüte ein falsches Image vermittle. Ich hab bei der Fahrt dreimal den U-Bahn-Waggon gewechselt, wenn mir komische Typen entgegenkamen. Und das nur wegen dieser blöden Tüte.“Nicht nur wegen des falschen Images finden die Tüte bekanntlich vor allem Umweltschützer blöd. 600 Milliarden Tüten werden jährlich weltweit hergestellt. In Europa waren vor allem Italiener bisher verrückt nach Plastikbeuteln. Rund vier Milliarden Tüten sind dort im Umlauf, also rund 66 Stück pro Kopf. Kein Wunder, dass dieser hemmungslose Gebrauch auch auf Widerstand stößt.Silvia Ricci – schlank und agil – läuft über einen Turiner Wochenmarkt und ermahnt Obst- und Gemüsehändler, endlich Biotüten auszuteilen. Die aber kramen ungerührt unter der Theke in Bergen von alten Plastiktüten, um ihre Kunden damit auszustatten. Der Feldsalat, die Gurke, die Avocado, alles kommt in die Tüte, jeweils getrennt. Ricci wuselt mit erhobenem Zeigefinger zwischen den Ständen herum. „Jeder nimmt mehr Tüten als nötig.“ Also hat Ricci landesweit eine Aktion gestartet, bei der jeder seine alte Tüten in den Supermarkt bringen und gegen neue Biotüten tauschen kann – damit die alten Plastikteile nicht im Normalmüll landen.Essen für Tüten opfern?Seit Anfang des Jahres ist in Italien nun die Vermarktung von Plastiktüten verboten. Aber die Umstellung auf Bioplastiktüten zieht sich. Biotüten gelten als Kompromiss zwischen Tütenfans und Umweltbewegten, aber auch hier gibt es kritische Stimmen: Denn bei Abermilliarden von Exemplaren könnte das einst ausgehen wie beim Biokraftstoff: Kompostierbare Beutel aus Mais- oder Kartoffelstärke könnten Lebensmittel für Menschen in ärmeren Ländern deutlich verteuern, wenn alle Konsumenten der Industriestaaten Biotüten herumtragen wollen. Die Maisproduktion würde angeheizt, ganze Landstriche monokulturell ausgerichtet und ein Teil der Maisernte stünde nicht mehr als Nahrungsmittel zur Verfügung.Und doch ist Italien mit dem neuen Gesetz keineswegs allein: Weltweit hagelt es seit Jahren vermehrt Plastiktütenverbote. Die Legislative in Deutschland kommt zwar wie die Bürger nicht so recht von der Plastiktüte los, sie appelliert weiterhin an die Eigenverantwortung. In Australien will man sie aber völlig verbieten. Und selbst in den USA tut sich etwas: In Los Angeles, so hat der Stadtrat beschlossen, soll sich der Papiersack für 25 Cent durchsetzen. Und in San Francisco setzt man – trotz Bedenken – auf Biobeutel auf Maiszuckerbasis.Steigern wir uns mal in die fast utopisch anmutende Vorstellung hinein, die Plastiktüte würde auch hierzulande verboten: Wir würden wohl Hamsterkäufe erleben, ähnlich wie bei Glühbirnen. Vielleicht kommt die Lösung des Plastikproblems aber aus der Modewelt: Die hat, nachdem er lange als völlig unästhetisch verpönt war, den Stoffbeutel seit einiger Zeit als Accessoire wiederentdeckt. Möchtegern-Hipster in Berlin und Hamburg gehen nicht mehr ohne Beutel aus dem Haus, nur möglichst retro sollte der Aufdruck sein.Allerdings gibt es da auch ein Problem. Der Stoffbeutel zerknittert leicht, dann kann man die Werbebotschaft nicht mehr gut lesen, also müsste man ihn bügeln – und ja, das war’s dann wohl für ihn.
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